Kriminalität Schweden: Minderjährige Opfer und Täter im Krieg der Gangs

Immer wieder ereignen sich in Stockholm Explosionen – zur Einschüchterung.
Immer wieder ereignen sich in Stockholm Explosionen – zur Einschüchterung.

Die Gewalt, die von kriminellen Banden ausgeht, trifft auch Unbeteiligte. Die Chefs der Gangs wissen genau, was sie tun.

Die Lage in Schweden ähnelt derzeit eher einem Krimi von Stieg Larsson als einer friedlichen Erzählung von Astrid Lindgren. Das viel beschriebene Bullerbü-Idyll des Landes hat durch die eskalierende Gewalt unter kriminellen Gangs arge Risse erhalten. Sieben Menschen wurden jüngst innerhalb von nur zehn Tagen rund um die Hauptstadt Stockholm erschossen. Im Durchschnitt fallen pro Tag einmal irgendwo im Land Schüsse. Immer wieder sind Minderjährige beteiligt.

„Eine Situation wie jetzt haben wir wohl seit 1945 nicht mehr gehabt. Es ist eine gefährliche Zeit“, sagte der erfahrene Polizist Jale Poljarevius zuletzt in der Rundfunksendung „Agenda“ zur jüngsten Gewaltwelle. Als Geheimdienstchef in der Polizeiregion Mittelschweden leitet er eine Einheit, die sich explizit mit den Gangs befasst. Es sei unglaublich, dass ausgerechnet ein Land wie Schweden so etwas erleben müsse. „Aber das ist die düstere Realität.“

Transitland für Kokain

Nun ist die Bandenkriminalität in Schweden nichts Neues. Dutzende Gangs sind untereinander „im Krieg“; laut Regierung sind schätzungsweise 30.000 Menschen Mitglieder dieser Banden. Dabei geht es in erster Linie um das große Geld, das im lukrativen Drogengeschäft zu holen ist. Schweden ist nach Angaben des schwedischen Zolls längst zu einem Transitland für Kokain aus Lateinamerika auf dem Weg nach Europa geworden.

All das führt zu Gewalt, die sich immer wieder in Schüssen und vorsätzlich herbeigeführten Explosionen äußert. In den ersten 258 Tagen des Jahres 2023 gab es laut offizieller Polizei-Statistik mehr als 260 Schusswaffenvorfälle mit 34 Toten und 71 Verletzten.

Manchmal geraten auch Unbeteiligte in die Schusslinien. Wie die zwölfjährige Adriana: Das Mädchen wurde vor rund drei Jahren beim Gassigehen mit ihrem Hund erschossen. Hinzu kamen in diesem Jahr bislang 120 Explosionen, bei denen jedoch in der Regel kaum Menschen zu Schaden kommen. Sie sind vielmehr dazu gedacht, Rivalen einzuschüchtern.

Verwandte werden angegriffen

Was jedoch neu ist: die Eskalation. Zum Pulverfass haben sich die Hauptstadtregion um Stockholm und die Universitätsstadt Uppsala entwickelt. „Derzeit befinden sich die kriminellen Netzwerke in einer sehr gewaltsamen, eskalierenden Phase“, sagte der Kriminologe Christoffer Carlsson von der Universität von Stockholm. Die Gangs seien dazu übergegangen, auch Angehörige von Bandenmitgliedern anzugreifen. „Wenn es schwierig ist, an die Mitglieder ranzukommen, dann werden sie über Verwandte angegriffen.“ Dies sei eine „schreckliche Entwicklung“, die aber nicht unerwartet gekommen sei.

Im Zentrum der jüngsten Gewaltwelle steht der 36 Jahre alte Anführer des sogenannten Foxtrot-Netzwerks. Er ist in Schweden unter dem Namen „Der kurdische Fuchs“ bekannt und soll sich mit einem 33 Jahre alten anderen führenden Mitglied des Netzwerks überworfen haben. Beide sollen sich in der Türkei versteckt halten. Nach Informationen des Rundfunksenders SVT nahm dort Anfang September die jüngste Gewalt ihren Anfang: Erst soll jemand aus dem Lager des 33-Jährigen in Istanbul misshandelt worden sein, dann sei auf eine Unterkunft mit Verbindungen zum Lager des „kurdischen Fuchses“ geschossen worden.

Regelrechte Hinrichtung

Dieser Konflikt wurde in kürzester Zeit nach Schweden getragen: Am 7. September wurde in Uppsala eine Frau im Alter von rund 60 Jahren erschossen – die Mutter des 33-Jährigen. Laut Polizei handelte es sich um eine regelrechte Hinrichtung. Seitdem jagt eine Racheaktion die nächste. Und Schweden ist geschockt, wie zunehmend Minderjährige in die Gewaltspirale hineingezogen werden, manche davon 14 Jahre und jünger.

Die Anzahl der Mordanklagen gegen Minderjährige ist in den vergangenen Jahren stark gestiegen. „Das ist natürlich eine tragische Entwicklung – dass Kinder und Jugendliche zu Mördern und auch zu Verbrechensopfern werden“, sagte Justizminister Gunnar Strömmer.

Keine konkreten Pläne

Angelockt werden die Jugendlichen von den Gangs unter anderem mit teurer Kleidung, Geld und einem Gefühl von Gemeinschaft. Der Hintergedanke dabei: Sie werden häufig für die grobe Arbeit eingesetzt, gemäß dem Jugendstrafrecht in Schweden drohen ihnen bei Verurteilungen deutlich geringere Haftstrafen als Erwachsenen. Damit sind sie für die Banden schon nach wenigen Jahren wieder einsetzbar.

Wie all das endet, ist unklar. Konkrete Pläne, wie die Rekrutierung von Minderjährigen gestoppt werden soll, hat die Regierung bislang nicht präsentieren können. Minister Strömmer kann sich separate Jugendgefängnisse vorstellen – selbst für 13- oder 14-Jährige.

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