Kalenderblatt: Kalender: Wer an der Nadel hängt – 1948 kommt die Vinyl-Schallplatte auf den Markt

RenaissanceDie gute alte Vinylplatte ist nicht totzukriegen. Ihr weicher Klang entzückt immer noch viele Musikfreunde.
RenaissanceDie gute alte Vinylplatte ist nicht totzukriegen. Ihr weicher Klang entzückt immer noch viele Musikfreunde.

Heute vor 72 Jahren, am 21. Juni 1948, veröffentlichte das amerikanische Tonträgerunternehmen Columbia die erste Langspielplatte aus Polyvinylchlorid, kurz Vinyl genannt. Die Scheibe mit einem Durchmesser von 30 Zentimetern und einer Geschwindigkeit von 33 Umdrehungen pro Minute eroberte die Wohnzimmer der Welt. Heute ist sie Kult. Eine Zeitreise. Von Hans Kraus

Auf der Premieren-Vinylscheibe zu hören ist das New York Philharmonic Orchestra unter Bruno Walter mit dem „Violinkonzert e-Moll“ von Felix Mendelssohn Bartholdy. Zwar hatte es zuvor schon Versuche gegeben, Töne in Vinyl zu pressen und damit die bis dahin gebräuchliche, relativ teuer herzustellende Schellackplatte abzulösen. Aber erst diese Veröffentlichung kann als Geburtsstunde der Vinyl-LP gewertet werden.

Etwas später, am 31. März 1949, stellte RCA Victor die erste Vinyl-Singleschallplatte – das Arthur Fiedler’s Boston Pops Orchestra mit „Gaité Parisienne“ von Jacques Offenbach – vor, die mit 17 Zentimetern Durchmesser und 45 Umdrehungen pro Minute der Langspielplatte Konkurrenz machen sollte, über die Jahre hinweg aber ein Eigenleben entwickelte und lange gleichberechtigt neben ihrer großen Schwester existieren konnte.

Schallplatten erfüllten zunächst nur den Zweck, Tonaufnahmen – vorwiegend musikalischer Darbietungen – an den Hörer zu bringen. Immer mehr wurden sie aber Ausdruck eines Lebensgefühls. Von den 1950ern bis in die 1980er musste jeder Teenager, wenn er als cool gelten wollte, einfach eine Schallplattensammlung vorweisen können. Auch heute noch, fast 40 Jahre nach Einführung der ersten Compact Discs und der aktuell noch einfacheren Möglichkeit, Musik auf Streamingdiensten anzuhören oder von Downloadportalen herunterzuladen, steht Vinyl hoch im Kurs und ist wirtschaftlich wieder erstarkt.

Hoch-Zeit für Plattensammler

Zu verdanken hat die von vielen totgesagte Schallplatte das vor allem ihrem guten Klang, DJs, Sammlern und ihrem Status als Kultobjekt. 1958 hatten Vinylscheiben Schellack den Garaus gemacht, 25 Jahre später drohte ihnen ein ähnliches Schicksal, als sie von der CD regelrecht vom Markt gefegt wurden. Einige Plattenbesitzer bewahrten ihre Schätze weiter auf, die meisten aber verscherbelten die schwarzen Scheiben zu Spottpreisen und stiegen auf die pflegeleichtere, kleinere, mobil zu hörende und platzsparendere Audio-CD um.

Das war die Hoch-Zeit für Plattensammler, die von nun an überall nach Vinyl-Raritäten stöberten, die sie sich bis dahin nicht hatten leisten können oder die einfach oft nur unauffindbar waren. Flohmärkte ohne Plattenkisten waren jetzt schlichtweg nicht mehr denkbar. Second Hand-Plattenläden entstanden und als 1989 die Berliner Mauer fiel, brachten viele ehemalige DDR-Bürger Vinyl-Veröffentlichungen des staatlichen Labels Amiga, mit dem sie nichts mehr zu tun haben wollten, aus dem Osten in den Westen mit.

Für DJs und Haptiker

Gleichzeitig erreichte die Techno-Bewegung ihren Höhepunkt. Hip-Hop wurde immer populärer, DJs mutierten von einfachen Plattenauflegern zu selbstständigen Musikern. In Diskotheken führten sie das sogenannte „Scratching“ ein. Durch „kratzen“ mit der Nadel in den Rillen einer laufenden Schallplatte entstanden neue Töne, die, entsprechend eingesetzt, durchaus als Musik verstanden werden konnten. Mit von einem Laserstrahl abgetasteten CDs ist so etwas natürlich nicht möglich. DJs spielten daher eine wesentliche Rolle für das heimliche Überleben der Vinyl-Schallplatte.

Es gab aber auch noch die Haptiker, Menschen, denen es wichtig ist, Genuss mit dem Tastsinn zu erleben. Die es zelebrieren, wenn sie eine Schallplatte aus der Hülle nehmen, sie auf den Plattenteller legen, die Nadel aufsetzen und den Lautstärkeregler nach rechts drehen oder nach oben schieben. Und die sich beim Anhören der Scheibe mit der künstlerischen Gestaltung des Covers beschäftigen, die auf der CD nicht mehr so sehr gepflegt wurde und bei digitalen Bemusterungen völlig flachfällt.

Der weiche Klang

Von allen vermisst wurde aber der weiche, analoge Klang, den eine Vinylplatte erzeugt. Die Dynamik einer gut aufgenommenen Schallplatte lässt sich von einer nur auf Kompression ausgerichteten CD nach wie vor nicht übertreffen. Die Nachfrage nach Vinyl wurde größer und größer. Wen wundert’s also, dass die Schallplatte ein Revival erlebte? Diejenigen Plattenfirmen, die Vinyl totgesagt hatten, suchten plötzlich verzweifelt nach Presswerken, um mit Veröffentlichungen – teils Neuauflagen älterer Klassiker, aber auch aktuellen Aufnahmen – auf den Zug aufzuspringen, der quasi über Nacht die Fahrt zu neuen „alten“ Geldquellen aufgenommen hat.

Inzwischen tragen Vinylverkäufe wieder fünf Prozent zu den Gesamteinnahmen des deutschen Musikmarktes bei. Rund 3,4 Millionen Langspielplatten gingen hierzulande 2019 über die Verkaufstheken – Tendenz steigend. Die Industrie hat sich den Ansprüchen ihrer Kundschaft angepasst. LPs erscheinen heute meist mit einem Gewicht von mindestens 180 Gramm. Preislich bewegen sie sich, unter Berücksichtigung der Inflation und Euro-Umstellung, in etwa auf dem gleichen Niveau wie in ihrer glorreichen Vergangenheit. Das Geburtstagskind Vinyl-Schallplatte scheint in einem Jungbrunnen gebadet zu haben und zeigt sich damit im Seniorenalter jugendlich innovativ.

Die RHEINPFALZ feiert 2020 ihren 75. Geburtstag. Im Kalender erinnern wir jeden Tag an ein besonderes Ereignis oder eine ungewöhnliche Geschichte aus den vergangenen 75 Jahren.

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