Panorama „Der Gesichtsschmelzer“

«London.»Weil ätzende Flüssigkeiten nicht als Waffe gelten, werden sie in Großbritannien immer öfter bei Überfällen eingesetzt. Die Behörden reagieren bislang nur halbherzig auf den Trend. In Deutschland gibt es nur wenige Einzelfälle – wie etwa den Angriff auf einen Energiemanager vor gut einer Woche.

Es war der wohl bislang schlimmste Säureangriff. Ein Teenager verspritzte im Juli 2017 im Londoner Stadtteil Hackney innerhalb von 70 Minuten sechsmal eine ätzende Flüssigkeit. Das Tatschema war immer das gleiche: Der junge Mann war Beifahrer auf der Vespa seines Komplizen. Das Paar hielt vor einer roten Ampel neben einem anderen Motorradfahrer. Dann schüttete der damals 16-Jährige dem Opfer durchs Visier seines Helms eine ätzende Chemikalie ins Gesicht. Ziel war es jeweils, den Fahrer auszuschalten und dessen Motorrad zu stehlen. Billigend in Kauf nahmen die Täter, dass die Opfer teils schwerste Verletzungen erlitten. Ein Mann verlor 30 Prozent seines Sehvermögens. Vom „Crown Court“ im Stadtteil Wood Green wurde der Teenager gestern zu zehneinhalb Jahre Gefängnis verurteilt. Früher wurde Säure hauptsächlich bei Beziehungstaten eingesetzt: Eifersüchtige oder zurückgewiesene Männer wollten sich so an Frauen rächen. Heute, so Hauptkommissar Simon Laurence von der Polizei in Hackney, „wird Säure von Straßengangs als Waffe eingesetzt“. Zwei Menschen kamen bisher ums Leben. Überlebende erleiden oft „lebensverändernde Verletzungen“ – erblinden oder müssen mit das Gesicht entstellenden Narben leben. Gab es 2015 in London 261 Säureangriffe, waren es ein Jahr später bereits 454 Attacken. Für 2017 gibt es noch keine abschließenden Zahlen, aber bis zum April hatte man schon mehr als 400 Vorfälle gezählt. Die hochrangige Polizeibeamtin Rachel Kearton warnte bereits im Dezember, dass Großbritannien bei Säureattacken eine der weltweit höchsten Raten habe: „Und die Zahlen scheinen weiter anzusteigen.“ Ein Grund dafür ist naheliegend. Wer ein Messer in der Öffentlichkeit mit sich führt, macht sich strafbar. Dagegen gilt eine ätzende Flüssigkeit an sich nicht als Waffe. Und wenn man sie in einer Plastikflasche verwahrt, sieht das erst einmal harmlos aus. Besonders bei rivalisierenden Jugendgangs gilt Säure mittlerweile als Waffe der Wahl. „Face Melter“, Gesichtsschmelzer, wird sie genannt. Oder auch „Folter in der Flasche“. Man will, so der Kriminologe Simon Harding, „das Opfer durch einen Akt der Dominanz entstellen und dadurch einen Rivalen ausschalten“. Es macht den Job der Polizei dabei nicht leichter, dass eine ganze Reihe von Chemikalien eingesetzt werden können: von Schwefelsäure über Ammoniak bis zum Ofenreiniger. Die Behörden haben bisher nur zögerlich auf den beunruhigenden Trend reagiert. Immerhin gelten ab Juni neue Richtlinien bei der Strafzumessung, die erstmals ermöglichen, dass „ätzende Substanzen“ als hochgefährliche Waffen wie Messer oder Feuerwaffen eingestuft werden können. Das wird Richtern erlauben, höhere Strafen auszusprechen. Einige Einzelhandelsketten haben sich freiwillig verpflichtet, gefährliche Chemikalien nicht an Minderjährige zu verkaufen. Die Polizei würde eine Regelung begrüßen, die das Mitführen von Säure ausdrücklich unter Strafe stellt. Doch dieses Gesetz wird es so schnell nicht geben.

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