Zweibrücken Nur beinahe der Weltuntergang

Begeistert recken sich die Hände aller 15 000 Festivalgäste nach oben. Beim Urban Art Hip Hop Festival in Völklingen bewegen sie sich im Takt der künstlich erzeugten Beats. Himmel, ist das die „Jugend von heute“? Soll das die neue Elite werden? Das kann doch nicht wahr sein. Mit denen droht uns doch der Weltuntergang? Mindestens!

Versuchen wir an dieser Stelle einmal eine Annäherung an die Hip-Hop-Kultur. Genetikk bat die RHEINPFALZ schon im Vorfeld (), die verwendeten Ausdrücke nicht wörtlich zu nehmen. Man müsse sie im Kontext verstehen, Übertreibung als Stilmittel anerkennen. Doch das fällt an diesem Abend stellenweise schon schwer. Wächter der Jugendgefährdung haben sich einst den Abschuss des Berliners Sido zum Ziel gemacht, weil der ja so gefährlich sei. Nur eine der vielen Klagen gegen ihn war halbwegs erfolgreich. Sido wurde aber nie – wie beispielsweise Ramstein – auf den Index gesetzt. Seine Songs hören sich im Vergleich zu dem, was an diesem Abend es in der Hütte zu hören gibt, eher harmlos an. Wo sind die Hüter der Moral, wenn man sie mal wirklich braucht? SSIO „singt“ gerade den Song „Nüttööö“. Im Chor brüllen die Jugendlichen den Refrain „Ess-Ess-I-Oooooooooo“ in den Himmel. Da geht es um käuflichen Sex, harte Jungs und unter Umständen noch viel Schlimmeres. Wie harmlos war dagegen doch die Jugendkultur in den 60ern des 20. Jahrhunderts. Aus heutiger Sicht ist es kaum zu glauben, dass die harmlosen Pilzköpfe der Beatles zu wütenden Auseinandersetzungen in Kinderzimmern führten. AC/DC wurde rund 20 Jahre später von den Kirchen schon als Teufelszeug gegeißelt, wegen „Highway to Hell“. Kurz danach gab es mit Metallicas „Kill ′em all“ sogar noch eine Steigerung. Aber im 21. Jahrhundert gehen die Hard-Rock-Kinder von damals mit ihrem Nachwuchs zu den Konzerten der jetzigen Altrocker. Die Anzahl der Teufelsanbeter oder Massenmörder darunter dürfte verschwindend gering sein. Der Hip-Hop-Kultur steht der tolerante Hard-Rock-Papi meist aber fassungslos gegenüber. Weil diese manchmal einfach protzig wirkt. Es ist kurz nach 20 Uhr. Zahlreiche Limousinen der Marken BMW und Audi fahren in Völklingen am Eingang für die VIP vor. Sie werden von sonnenbebrillten Jungs in Muskelshirts gesteuert, die mit Goldketten geschmückt sind. Ja, so platt kann Hip Hop sein. Es handelt sich um die Vorboten von Kollegah und seinem Gefolge. Wieder hageln Gift und Galle von der Bühne. Ständig fällt das Wort „Boss“. Das wird übrigens mit einem lang gezogenen „o“ und einer leichten Prise „a“ ausgesprochen. Das hört sich dann ungefähr wie „Boooooasss“ an. Dieser Boss zieht beim Konzert einmal die Sonnenbrille ab und lächelt dabei. Der Kollegah sieht plötzlich ganz lieb und freundlich aus.Hören wir bei seinem „Du bist Boss“ etwas sorgfältiger auf den Text: „Du bist Booooasss, wenn du Cash nach Hause bringst, statt es in Novolines zu schmeißen, damit Mama sich nicht mehr bei ihrer Putzstelle quält. Du bist Boooooasss, wenn du Ausländer bist und dein Freundeskreis dir sagt, für uns gibt′s nur die schiefe Bahn, wir haben in Deutschland keine Wahl und du trotzdem alles gibst, um den ehrlichen Weg zu gehen.“ Das ist doch mal ein Text, der aufatmen lässt. Ist Hip-Hop doch nicht ganz ohne Moral und Anstand? Langsam wächst eine Erkenntnis: Wir „Erwachsenen“ haben uns den Hip-Hop selbst eingebrockt. Weil wir Vertreter unserer Jugendkultur, wie Rage against the Machine oder die Red Hot Chili Peppers immer noch störrisch für uns beanspruchen. Deren Texte waren übrigens ebenfalls nicht von Traurigkeit. In Völklingen wird es hingegen Zeit für den Top-Act des Tages. Es ist eine Wohltat zu erleben, wie die hinter Masken versteckten Lokalhelden Genetikk ihre Botschaften verbreiten, ohne sich mit Kraftausdrücken aufzublähen. Im „König der Lügner“ wird das Image des Hip-Hoppers sogar in eine Karikatur überführt. Ist diese Musik wirklich so schlimm, wie man es befürchten will? Gut finden muss man den Hip-Hop jedenfalls nicht. Denn was die „Jugend von heute“ am wenigsten braucht, ist erneut ein Übermaß an Toleranz. Man sollte den jungen Erwachsenen erlauben, einfach mal „die Sau rauszulassen“. Die Rolling Stones haben das schließlich auch für uns getan. Die suchen als Großväter übrigens immer noch „Satisfaction“. So schlimm kann das Treiben in der Welt der letzten 50 Jahre also nicht gewesen sein. Dabei wurde damals schon der Weltuntergang prophezeit. Mindestens!

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