Speyer Speyer: Sind unsere Wahlen zeitgemäß? - Interview

Jetzt geht es los: Die Briefwahlumschläge bei der Bundestagswahl 2013 in Speyer stapeln sich auf dem Tisch in der Stadtverwaltun
Jetzt geht es los: Die Briefwahlumschläge bei der Bundestagswahl 2013 in Speyer stapeln sich auf dem Tisch in der Stadtverwaltung in Speyer. Gleich werden sie geöffnet und ausgezählt.

Meinung am Montag: In Deutschland geben wieder mehr Menschen ihre Stimme bei Wahlen ab. Viele nutzen dabei die Briefwahl. In Speyer belegen die Zahlen noch keine stetige Zunahme der Briefwähler. Stefan Keller hat den Politologen Stephan Grohs von der Uni in Speyer nach dem Reformbedarf bei Wahlen gefragt. Ob es nur noch Briefwahl gibt, ist nicht das Wichtigste.

Herr Grohs, die Wahlbeteiligung steigt in Deutschland wieder an. Was ist der Grund dafür?

Die jüngsten Landtagswahlen haben gezeigt, dass die Polarisierung, die die AfD ins Parteiensystem gebracht hat, die Wähler aller Lager wieder an die Urnen treibt. Die Wahrnehmung ist: Es geht wieder um was. Ich gehe davon aus, dass sich der Trend auch bei der Bundestagswahl fortsetzt. Es gibt dennoch viele Nichtwähler. Ist die Demokratie für die unattraktiv oder stimmt das Angebot an Parteien/Kandidaten/Themen nicht? Die Motive sind unterschiedlich. Das reicht von reinem Desinteresse über eine Entfremdung vom politischen System hin zur offenen Ablehnung demokratischer Verfahren nach dem Motto „Wahlen ändern nichts“. Hinzu kommt die individuelle Gewichtung der Wahl. Bundestagswahlen haben generell eine höhere Wahlbeteiligung als Landtagswahlen oder gar Kommunal- oder Europawahlen. Man muss aber konstatieren, dass im internationalen Vergleich Deutschland eine recht hohe Wahlbeteiligung aufweist. Nur die Skandinavier und Staaten mit Wahlpflicht wie Belgien oder Luxemburg kommen im Schnitt auf höhere Werte. Unter den Wählern steigt das Interesse an der Briefwahl. Deren Anteil wächst stetig. Reine Bequemlichkeit der Wähler? Dies ist sicherlich ein Grund. Hinzu kommt die gestiegene Mobilität der Bürger, die das Wochenende nicht unbedingt am Heimatort verbringen wollen. Seit 2008 muss die Briefwahl auch nicht mehr begründet werden, so dass eine weitere Hürde gefallen ist. Seither wählt ein knappes Viertel per Briefwahl. Insbesondere bei Kommunalwahlen mit der Möglichkeit des Kumulierens (Häufeln von Stimmen) und des Panaschierens (Verteilen von Stimmen über Listen) werden die Wahlzettel immer größer, unübersichtlicher. Welche Rolle spielt das für die wachsende Beliebtheit der Briefwahl? Bei Kommunalwahlen mit Kumulieren und Panaschieren werden die Wahlzettel ja bewusst vorab versandt, da das komplizierte Verfahren sonst in den Wahlkabinen unter Zeitdruck zu Fehlern und Staus führen würde. Da liegt dann die Nutzung der Briefwahl nahe. Auch die Experten in der Verwaltung, die die Auszählung kontrollieren und in das Netz eingeben müssen, stöhnen. Immer mehr Helfer sind nötig, immer größere Tische zum Auszählen, daraus ergeben sich immer mehr Fehlerquellen. Es gibt aus diesem Kreis den Wunsch, komplett auf Briefwahl umzustellen. Ist dieser Wunsch für Sie nachvollziehbar? Von der rein technischen Seite der Wahladministratoren sicherlich, für sie würde die Arbeit einfacher. Die Umstellung auf eine reine Briefwahl – gerade bei Kommunalwahlen – hätte aber auch Konsequenzen, die bedacht werden sollen. Der Wahlakt ist eines der staatsbürgerlichen Rituale, die die Bürger mit ihrem Gemeinwesen verbinden und eine gewisse – auch lokale – Identität schaffen. Die Besetzung der Wahlvorstände mit Ehrenamtlichen aus dem gleichen Wahlkreis ist eines der verbliebenen basisdemokratischen Elemente, das nicht ohne Bedacht aufs Spiel gesetzt werden sollte. Die Erfahrung der Schweiz, wo die Briefwahl in den meisten Kantonen der Regelfall ist, zeigt, dass gerade in diesem vielgelobten Musterland der direkten Demokratie eine der niedrigsten Wahlbeteiligung in Europa zu finden ist. Wie wäre überhaupt eine Umstellung auf Briefwahl hinzubekommen? Formal müsste da natürlich das Wahlrecht angepasst werden. Hier stünde auch eine Prüfung der Verfassungsmäßigkeit an. Die Grundprinzipien der Allgemeinheit und Geheimheit der Wahl stehen hier in einem gewissen Konflikt. Administrativ müssten die Briefwahlunterlagen gleich mit der Wahleinladung mit verschickt werden, was den Arbeitsaufwand schon eher reduzieren würde. Die Bearbeitung der Briefwahlanträge würde ja wegfallen. Das Auszählen könnte zentralisiert erfolgen, der Einsatz von Wahlhelfern würde reduziert und die Kosten wahrscheinlich sinken. Ist Briefwahl aber nicht extrem manipulierbar? Wie wird das Wahlgeheimnis gewahrt beim Kreuzchenmachen daheim am Küchentisch? Dies ist neben der staatsbürger-ethischen Frage sicherlich die größte Crux. Die gegenwärtige Praxis der eidesstattlichen Erklärung ist natürlich ein schwaches Schwert. Andererseits ist bewusste Manipulation auch in der gegenwärtigen Briefwahlpraxis möglich, wenn auch beschwerlicher. Die verfassungsrechtliche Bewertung geht hier auseinander. Kumulieren und Panaschieren bei Kommunalwahlen stellt sicher für einige Menschen eine Herausforderung dar, die schon jetzt mit Hilfe von Dritten praktiziert wird. Die Überlegungen gehen sogar weiter: Weg vom Wahltag Sonntag auf Wochentag, Wahlurnen im Supermarkt. Was halten Sie davon? Der Effekt auf die Wahlbeteiligung ist unklar und hängt auch von der konkreten politischen Situation ab. Die Wahltage sind oft historisch bedingt. In Deutschland wird seit 1918 sonntags gewählt und dafür sprechen gute Gründe. Die Wahl soll frei vom Alltagsstress und wohlüberlegt sein; die Wahlvorstände sollen ehrenamtlich sein, sie müssten unter der Woche vom Arbeitgeber freigestellt werden; es sollten Räumlichkeiten zur Verfügung stehen, die üblichen Schulräume stünden nicht zur Verfügung. In anderen Staaten haben sich historisch andere Wochentage etabliert: Die USA wählen dienstags, die Niederlande mittwochs und die Briten donnerstags. Das hatte teils religiöse Gründe, teils technische Gründe. Was sind technische Gründe? Da in den USA die Wahllokale weit auseinanderlagen, fielen Wochentage aus, an denen keine Postkutschen verkehrten. Jenseits des Postkutschenzeitalters hat sich diese Tradition erhalten. Die Wahlbeteiligung zumindest in den USA und Großbritannien ist deutlich niedriger – und nur bedingt ein Vorbild. Hat die Demokratie denn Ihrer Meinung nach prinzipiell bei der praktischen Umsetzung Reformbedarf? Eine große Frage. Es gibt hier sicherlich in einzelnen Punkten dringenden Reformbedarf. Genannt sei die Frage des Umgangs mit Überhangsmandaten beziehungsweise dem negativen Stimmgewicht bei der Bundestagswahl, das vom Bundesverfassungsgericht auch angemahnt wird. Die Frage des Wahlalters und des Wahlrechts für Zugewanderte sind andere wichtige Fragen. Andere eher technische Baustellen wie die genannten Fragen des Wahltags oder der allgemeinen Briefwahl halte ich eher für sekundär. Solange es keine wirklich überzeugenden Gründe für eine Reform gibt – und ich sehe diese nicht– halte ich dies für nachrangig. Könnten solche Reformen die Demokratie attraktiver machen für Wähler, Wahlhelfer und Kandidaten? Für die Wähler bleibt das politische Angebot und das Gefühl, etwas mitentscheiden zu können und Einfluss zu haben, wichtig, nicht das Prozedere. Wahlhelfer werden eher am Wochenende abkömmlich sein, das erspart großen Diskussionsbedarf mit dem Arbeitgeber. Die Kommune als Organisatorin der Wahl hätte im Fall der allgemeinen Briefwahl sicherlich weniger Rekrutierungsbedarf, bei der Verlegung auf einen Wochentag hätte sie allerdings sicherlich noch größere Probleme der Gewinnung ehrenamtlicher Helfer. Die schon jetzt gängige Praxis, städtische Bedienstete als Wahlvorstände zu verpflichten, würde dann zu einer Lahmlegung der Stadtverwaltung führen, was auch nicht Sinn der Sache sein sollte. Ist der Gang zur Wahlurne nach dem sonntäglichen Gottesdienstbesuch inzwischen also noch keine Romantik der Demokratie? Noch gehen mehr Leute sonntags zur Wahl als zum Gottesdienst. Sicherlich ist da etwas Staatsbürgerromantik im Spiel, aber ich denke, gewisse Rituale stärken eher die Demokratie als überstürzte Reformen. Wie halten Sie es persönlich? Briefwahl oder gehen Sie an die Urne? Wenn ich es schaffe, gehe ich zur Urne – insofern bin ich Demokratieromantiker.

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