Speyer/St. Petersburg Leo Kraemer an der Newa

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Leo Kraemer, hier in Russland dirigierend. In diesem Jahr wird er mehrfach an der Newa mit den Philharmonikern dort arbeiten, einem der führenden Orchester auf der Welt. Im Juni steht jetzt die neunte Sinfonie auf dem Programm.

Warum es Leo Kraemer immer wieder nach Sankt Petersburg zieht, um dort Musik zu machen. Am 4. Juni dirigiert er die St. Petersburger Philharmonikern in der Philharmonie dort bei der neunten Sinfonie von Anton Bruckner. Zu Leo Kraemers Lehrern gehörten die legendären Bruckner-Dirigenten Eugen Jochum, Günter Wand und Sergiu Celibidache.

Der militärische Einsatz Russlands gegen die Ukraine sitzt ihm im Nacken. Und natürlich kann er ihn nicht einfach abschütteln. Doch wenn Leo Kraemer nach Sankt Petersburg reist, dann betritt er dort nicht Feindesland, sondern wird von Freunden empfangen. Von Menschen, die ihre Hoffnungen an ihn hängen und die ihm eine Bitte mitgeben: „Vergesst uns nicht – wir sind auch Europa.“

In wenigen Tagen ist es wieder so weit: Am 4. Juni steht die Aufführung von Anton Bruckners neunter Symphonie mit den Petersburger Philharmonikern in der Petersburger Philharmonie an, die der Speyerer Orchesterleiter und Organist aus Anlass des 200. Geburtstags des österreichischen Komponisten dort leiten wird. Auf dem Konzertprogramm steht auch Mozarts 40. Symphonie in g-Moll. Beide Werke sind „Ausrufezeichen“, wie Kraemer findet. Artikulieren sie doch ein tragisches Weltverständnis, das in diesen Zeiten angemessen scheint.

Am Geburtstag von Mravinsky

Das kommende Konzert mit Leo Kraemer am 4. Juni hat für die alte Zarenstadt an der Newa eine ganz besondere Bedeutung, denn es findet am 121. Geburtstag von Yevgeny Mravinsky statt. Der Dirigent stand viele Jahrzehnte an der Spitze der Philharmoniker. Der gestrenge Maestro machen aus ihnen ein Weltorchester.

Wie Leo Kraemer zu seinen Verbindungen nach Petersburg kam, wohin er mehrmals im Jahr reist: „Das ist eine Lebensgeschichte“, meint er im Gespräch. Die Kontakte entstanden in Finnland, wo er in den 1980er Jahren als Orgellehrer und als Leiter eines Festivalorchesters aus Studierenden und Dozenten jährlich war. Unter den Teilnehmern auch Musiker aus dem damaligen Ostblock. Eines Morgens klingelte das Telefon, und die Einladung nach Moskau war perfekt.

Zunächst unternahm Leo Kraemer eine Konzerttournee durch die „Bruderstaaten“ der damaligen Sowjetunion. Im großen Konzertsaal des Moskauer Tschaikowski-Konservatoriums hatte er dann Gelegenheit, auf einer Orgel des berühmten Orgelbauers Aristide Cavaillé-Coll zu spielen, der die klanglichen Voraussetzungen für die Werke der französischen Spätromantik schuf.

Völkerverbindender Charakter

Kraemers Programm: die drei Choräle von César Franck. In dieser Zeit hatte er auch die Stelle als Domorganist in Speyer inne; hinzu kamen nun Kontakte zu Musikern in den baltischen Staaten, vor allem in Estland, wo er für fünf Jahre die Philharmonie in Tallinn leitete. Ein Kammerchor aus der estnischen Hauptstadt hat in dieser Zeit mehrfach in der Domstadt gastiert. Für Kraemer lag der besondere Wert darin in einem völkerverbindenden Charakter.

Beim Staatsbesuch des damaligen Sowjetpräsidenten Michail Gorbatschow saß Leo Kraemer an der Orgel des Speyerer Doms. Bei solchen Gelegenheiten war Johann Sebastian Bachs d-Moll-Toccata und Fuge gewünscht. Anschließend ging es in den Deidesheimer Hof, wohin Bundeskanzler Helmut Kohl seine Gäste ebenso einzuladen pflegte. Kraemer, der den Internationalen Speyerer Orgelwettbewerb ins Leben gerufen hatte, fasste den Mut, Gorbatschow zu bitten, die Teilnahme russischer Musiker an der Jury dieses Wettbewerbs zu ermöglichen. Und schon ein Jahr darauf saß mit Oleg Yantschenko ein Orgelprofessor aus Moskau in diesem Gremium. Unter den Preisträgern waren in den Folgejahren auch russische Studenten.

Zuversicht durch Musik

Nach Sankt Petersburg kam Kraemer zunächst via Konzertreise als Organist. Mehr und mehr war er dann auch als Dirigent gefragt. Seit vielen Jahren leitet er nun Aufführungen der Petersburger Philharmoniker, auch wenn die Reise dorthin für den mittlerweile 80-Jährigen mit gehörigen Strapazen verbunden ist: Nach dem Flug nach Tallinn geht es mit dem Bus weiter nach Sankt Petersburg. Dennoch zieht es den Speyerer Musiker immer wieder nach Osten. Zuletzt im April, wo er Johann Sebastian Bachs Johannes-Passion aufgeführt hat – mit vielen emotionalen Momenten.

Eine derart „laute Stille“ wie nach dem letzten Ton habe er noch nie vernommen. 2000 Zuhörer hätten eine halbe Ewigkeit geschwiegen, bevor sich die Begeisterung in einem 17-minütigen „Jubelschrei“ Luft verschafft habe.

Immer wieder mache er die Erfahrung, so Kraemer, wie viel Zuversicht Musik vermitteln könne. Gerade in Anbetracht der aktuellen Lage sei in der russischen Bevölkerung der Wunsch nach Begegnungen mit Menschen aus anderen Erdteilen groß. Kunst und Kultur könnten gemeinsame Plattformen für solche Begegnungen schaffen. Was Leo Kraemer bis heute zu seinen Reisen nach Russland motiviert, ist die enorme Dankbarkeit, die ihm dort entgegenschlägt. Und die Tatsache, dass er dort „eines der weltweit besten Orchester“ leiten dürfe.

Schüler von Jochum oder Celi

Kraemer selbst verdankt seine Dirigentenkarriere der Zusammenarbeit mit namhaften Lehrern wie Eugen Jochum, Günter Wand, Sergiu Celibidache und Nikolaus Harnoncourt.

Und auch die nächste Reise steht bereits fest: Im Oktober dirigiert Kraemer ein Konzert mit den Petersburger Philharmonikern. Auf dem Programm stehen unter anderem Beethovens viertes Klavierkonzert und seine dritte Symphonie, die „Eroica“. Ein heroisches Durchhaltevermögen – auch das soll die Musik den in Russland lebenden Menschen vermitteln. Kraemer, der mit dem Geinsheimer Männerchor soeben ein Vokalensemble mit über 150-jähriger Tradition übernommen hat - „Ich konnte doch nicht zusehen, wie eine Dorfkultur zugrunde geht“ -, bleibt dabei auch der lokalen Kultur verbunden.

So wird Kraemer beim nächsten Konzert von Palatina-Klassik, deren künstlerischer Leiter er ist, in der Speyerer katholischen Kirche St. Otto am Sonntag, 30. Juni, 17 Uhr, Franz Schuberts Siebte („Unvollendete“) und dessen große Es-Dur-Messe dirigieren. Geistlichen Trost haben wir, so seine Überzeugung, in diesen krisenhaften Zeiten doch alle nötig.

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