Speyer In den Köpfen und Herzen der Speyerer

„Der 9. November 1989 war ein Donnerstag. Ich war mit Helmut Kohl in Warschau.“ Wie Bernhard Vogel (CDU), Ministerpräsident a.D. von Rheinland-Pfalz und Thüringen, konnte sich jeder der zahlreichen Besucher am Donnerstagabend im Historischen Ratssaal erinnern, wo und wie er vom deutschen Wendetag vor gut 25 Jahren erfahren hat. Als zweite Zeitzeugin hatten der Berliner Verein Deutsche Gesellschaft und das Bundespresseamt Pfarrerin Renate Ellmenreich aufs Speyerer Podium gebeten. RHEINPFALZ-Politikredakteur Ilja Tüchter moderierte „Geschichten der Deutschen Einheit“, die auch nach einem Vierteljahrhundert nichts von ihrer Faszination verloren haben. Als Ellmenreich, Pfarrerin der Mainzer Pauluskirchengemeinde, von Verhören, Verhaftung, Demütigung und dem Tod ihres Lebenspartners Matthias Domaschk 1981 in der Untersuchungshaft des Ministeriums für Staatssicherheit berichtet, ist es sehr still im Saal. Ellmenreich (65) erzählt von Unfreiheit, der Sehnsucht der 68er-Generation der DDR nach einem schöneren, freieren und bunteren Leben. „Wir wollten den grauen fest betonierten DDR-Sozialismus nicht mehr“, sagt sie und: „Niemand von uns war gegen Sozialismus.“ Es sei um Veränderung gegangen, um Meinungsfreiheit und Minirock. Vogel spricht vom Unrechtsstaat DDR, in dem die Menschenwürde mit Füßen getreten worden sei. „Eine Einheit ist Deutschland erst seit dem 3. Oktober 1990“, betont er. Seitdem könne niemand mehr eine deutsche Grenze in Frage stellen. In den Köpfen und Herzen auch vieler Speyerer bleibt freilich der 9. November das historische Datum einer Wende, die ein Volk friedlich herbeigeführt hat. „Wir haben die Angst verloren und den aufrechten Gang gelernt“, sagt Ellmenreich. „Die Mauer ist offen“, habe seine Großmutter unter Tränen auf seinen Anrufbeantworter im US-amerikanischen Studentenzimmer gesprochen, erinnert sich Tüchter an die unglaubliche Meldung aus der Heimat. Sie habe beim Mauerfall bereits fast zehn Jahren in der Bundesrepublik gelebt, weist Ellmenreich auf ihre Ausreise aus der DDR 1980 hin. Weder sie noch Vogel hätten sich die Wende in ihren kühnsten Träumen vorstellen können. „Als die Mauer wirklich gefallen war, haben wir erstmals den für uns völlig irren Gedanken gewagt, dass das geteilte Deutschland irgendwann ein Land sein könnte“, so die Pfarrerin. Vogel berichtet von 1600 Stasi-Aufzeichnungen über seine elf DDR-Besuche in den Jahren 1976 bis 1988. „Ich war von einer Wiedervereinigung immer überzeugt – irgendwann, am Ende eines langen Prozesses, das ich wahrscheinlich nicht mehr erleben würde“, fasst der Ministerpräsident a.D. seine Prognosen vor 1989 zusammen. Für „Ostalgie“ brachte Ellmenreich kein Verständnis auf. In der DDR habe es Kindergarten- und Arbeitszwang gegeben, einen Alltag voller Mangel, Bespitzelungen, Misstrauen und starke Überbeschäftigung, zählt sie auf, was auch zur Unzufriedenheit der DDR-Bürger geführt habe. „Aber es war nicht alles schlecht“, räumt sie ein. „Viele hatten falsche Vorstellungen vom Westen“, sagt Vogel. „1990 war ich ununterbrochen auf High Speed“, beschreibt die Pfarrerin ihre Aufbruchstimmung. Zur „neuen Zeit“ gehörten auch Enttäuschungen nach Öffnung der Stasi-Akten, weist sie auf menschliche Verletzungen hin. Einiges sei bis zur gelungenen Einheit noch zu verbessern, betont Vogel und verspricht: „Bei der zweiten Wiedervereinigung machen wir das alles besser.“

x