Rhein-Pfalz Kreis Nach Pozywio-Prozess: Protestmarsch nach Potsdam

Der Angeklagte im Pozywio-Prozess, der am 18. August vom Amtsgericht Frankenthal zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt wurde (wir berichteten), will mit einem Protestmarsch auf das Urteil aufmerksam machen. Der 23-Jährige bestreitet die Tat. Er und seine Anwälte sprechen von einem „Fehlurteil“ und haben inzwischen Berufung eingelegt. Auf einer Facebook-Seite zugunsten des Verurteilten wird das Gericht der Fremdenfeindlichkeit beschuldigt. In türkischen Medien ist von „Lynchjustiz“ die Rede.

Auf dem Foto ist ein junger Mann zu sehen in einem weißen Arztkittel, darunter ein weißes Hemd und eine rote Krawatte. Um den Hals hängt ein Stethoskop. Rechts und links stehen Vater und Mutter, alle lächeln stolz. Das Bild stammt aus dem Jahr 2013, als der junge Mann in Istanbul an einer Privatuniversität das Studium der Medizin aufnahm. Das Foto sollte das Berufsziel des Sohnes dokumentieren: Arzt. Doch es kam anders. Das Foto schmückt nun als Profilbild eine Facebook-Seite, die zur Unterstützung des Frankenthalers eingerichtet wurde. Er soll 2015 in einer Eifersuchtstat den Dirmsteiner Handballer Fabian Pozywio mit einer Bierflasche auf den Kopf geschlagen haben. Pozywio erlitt ein Schädel-Hirn-Trauma, lag lange im Koma und kämpft sich seither Tag für Tag zurück ins Leben. Vor eineinhalb Wochen hat das Schöffengericht Frankenthal den 23-Jährigen wegen gefährlicher und schwerer Körperverletzung zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. Der Mann bestreitet die Tat, seine Anwälte haben Berufung eingelegt. Nun soll mit der Facebook-Seite offenbar öffentlicher Druck erzeugt werden. Von mittlerweile 430 Unterstützern der Seite gibt es viele Einträge und Kommentare, die dem Verurteilten Mut zusprechen sollen. „[Er]* ist ein guter Junge“, „Er wurde Opfer von Verleumdung“, „Wir sind auf seiner Seite“, „Gerechtigkeit wird früher oder später eintreten“, lautet der Tenor vieler Botschaften, die zumeist in türkischer Sprache verfasst sind. Der 23-Jährige – obwohl in Deutschland geboren und aufgewachsen – studierte in der Türkei. Mitglieder der Familie sollen sich in dem Verein ADD (Atatürkcü Düsünce Dernegi) engagieren, der sich der Verbreitung des Gedankenguts Atatürks verschrieben hat, dem Gründer der Türkei. Deshalb hat die Familie vermutlich auch Kontakte zu politischen Kreisen in der Türkei. Doch nicht alle Einträge auf der Seite begnügen sich mit Solidaritätsbekundungen für den Frankenthaler. Viele können die Anklage und das Urteil des Gerichts nicht verstehen oder akzeptieren und vermuten dahinter Fremdenfeindlichkeit. So spricht zum Beispiel die rechtsgerichtete Journalistin und Autorin Banu Avar von Türkenfeindlichkeit in Deutschland und schreibt: „Der Richter hat nicht deutsches Recht, sondern Gesetze des Dschungels angewandt, was gleichzeitig seine rassistische und fremdenfeindliche Seite aufgezeigt hat. [Der Angeklagte]* wurde mit fingierten Beweisen nur deswegen verurteilt, weil er Türke ist. Im Gerichtssaal war alles fingiert, nur die Strafe war echt.“ Erdal Sarizeybek, ein früherer Angehöriger der Armee und mittlerweile Autor, spricht von einem Komplott gegen eine türkische Familie. Er führt den Prozess darauf zurück, dass die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei derzeit so schlecht sind. Auch die Presse nahm sich der Sache an. In der Türkei hat der private Sender Halk Tv, der der sozialdemokratischen Oppositionspartei CHP (Cumhuriyet Halk Partisi) nahesteht, über den Fall berichtet. Der Sender spricht von einer Haftstrafe mithilfe von falschen Zeugen. Die religiös-konservative Zeitung Türkiye textete am 16. Mai 2017 in ihrer Europa-Ausgabe die Schlagzeile: „Beweise werden vertuscht. Es wird Lynchjustiz betrieben. Als Türke bist du von vornherein schuldig.“ Nach dem Urteil schrieb die Zeitung: „Die Beweise waren Lügen. Die Strafe ist echt. Das Urteil des Gerichts nach einem 25 Monate dauernden Prozess, der nur auf Einbildungen beruht, hat schockiert.“ Die Anwälte des 23-Jährigen distanzieren sich von den Facebook-Mitteilungen und von den Presseberichten, in denen das Gericht des Rassismus beschuldigt wird. Edgar Gärtner, einer der Verteidiger, sagte gegenüber der RHEINPFALZ, dass er von der Facebook-Seite keine Kenntnis habe. Zu den Vorwürfen äußerte er sich: „Wir sagen nur, dass wir das Urteil als ein Fehlurteil bewerten. Aber Diskriminierung seitens des Gerichts sehen wir nicht.“ Gärtner sieht auch Anhaltspunkte, wonach das Gericht sein Urteil schon vorher gefällt und nicht auf die Plädoyers gewartet habe. Den Beginn der Berufungsverhandlung am Landgericht Frankenthal erwartet er für das kommende Frühjahr. Der Verurteilte hat aufgrund des Prozesses sein Studium vorerst abgebrochen. Gegenüber der RHEINPFALZ sagt er, dass er eine schwere Depression hinter sich habe und immer noch Mittel dagegen einnehme. Er möchte das Urteil anfechten und hat am vergangenen Freitag einen Protestmarsch nach Potsdam zum Grab Friedrichs II. gestartet. Das Motto: „Im Namen des Volkes, für Gerechtigkeit“. Der 23-Jährige läuft demnach zu Fuß, muss die Aktion jedoch regelmäßig unterbrechen, weil er sich viermal die Woche bei der Polizei melden muss. Auf einer Facebook-Seite kann der Lauf verfolgt werden. Der Name Friedrichs des Großen wird besonders im Ausland mit Achtung vor dem Gesetz verbunden. Der Monarch soll sich der Überlieferung nach nach dem Bau seines Schlosses Sanssouci an dem Geklapper einer Mühle in der Nähe gestört haben und dem Müller diese habe abkaufen wollen. Nachdem dieser sich weigerte, drohte Friedrich der Große mit Enteignung. Der Müller soll ihn auf das Kammergericht in Berlin hingewiesen haben, woraufhin sich Friedrich II. der von ihm geschaffenen Rechtsstaatlichkeit gebeugt haben soll. * Im Original wird der Name des Verurteilten genannt

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