Neustadt „Wichtige negative Mahnmale“

Schüler und Auszubildende brachten Tränen aus Papier mit.
Schüler und Auszubildende brachten Tränen aus Papier mit.

Für den protestantischen Dekan Armin Jung, der die Gedenkrede am Ehrenfriedhof hielt, ist das Jahr 2018 nicht nur wegen des Ersten Weltkrieges ein besonderes Gedenkjahr. Vor 400 Jahren, 1618, begann der Dreißigjährige Krieg, der als erster europäischer Krieg ungeheure Verluste an Menschenleben, aber auch an Kultur und Zivilisation forderte. „Menschen haben damals Dinge getan, die sie sonst nie gemacht hätten“, ist Jung überzeugt. 1918 endete der Erste Weltkrieg. „Aber war das wirklich ein Grund zum Jubeln?“, fragte Jung und erinnerte, wie durch die sogenannte „Dolchstoßlegende“ und eine zunehmende Radikalisierung bereits der Zweite Weltkrieg vorbereitet wurde. Aber auch das Jahr 1968 sei für ihn von Bedeutung: Vor 50 Jahren entstand mit den Friedensmärschen, der ökologischen Bewegung, der Emanzipation der Frauen und der Bürgerrechtsbewegung in den USA ein neues Bewusstsein. Zugleich tobten der Krieg in Vietnam und andere Stellvertreterkriege, herrschte der Kalte Krieg zwischen Ost und West. „Wir dachten, diese Zeit ist vorbei, aber ich bin mir nicht sicher, ob wir nicht immer noch Angst haben müssen vor den Menschen und vor dem, was wir anrichten können“, schloss Jung. Bereits in der Woche vor dem Volkstrauertag hatte das Bildungsbüro der Stadt junge Menschen zu einem Workshop eingeladen. 14 Jugendliche – Schüler der Neustadter Schulen und Auszubildende der Stadtverwaltung – beschäftigten sich einen Tag lang mit Krieg, Flucht und Vertreibung, indem sie Feldpostbriefe und Tagebucheinträge aus den Weltkriegen lasen. Dass dies nicht bloß ferne Geschichte ist, erlebten sie, als ein Bundeswehrsoldat – jetzt Azubi bei der Stadt – von seinem Auslandsaufenthalt in Afghanistan berichtete und eine junge Frau aus Syrien von ihrer Flucht erzählte. „Danach war es ganz still“, erinnerte sich Ann-Kristin Langenbahn, die gemeinsam mit Minella Hoffmann den Workshop organisierte. Ihre Eindrücke haben die jungen Leute zum Ausdruck gebracht, indem sie an die winterkahlen Äste eines Baumes neben dem Kriegermahnmal papierne Tränen hängten. „Kein Stillschweigen über die Vergangenheit“, ist zum Beispiel darauf zu lesen. Oder ein Zitat von Michael Gorbatschow: „An den Frieden denken heißt, an die Kinder denken.“ Was junge Menschen über die scheinbar so ferne Zeit der beiden Weltkriege denken, sprach auch Elisa Knöringer von der Jugendvertreterin der Stadtverwaltung aus: „In der Schule lernen wir, was Politik anrichten kann und wie viel Macht ein einzelner erlangen kann. Aber es reicht nicht, das nur für die nächste Klausur zu lernen. Wir müssen uns dessen bewusst werden, es begreifen und daraus für die Zukunft lernen.“ Für ihre Generation sei Frieden und Sicherheit selbstverständlich, aber je mehr sie darüber nachdenke, desto dankbarer sei sie. „Wir sollten dem Hass und dem Bösen genügend Liebe entgegenstellen“, so die junge Frau. „Aber unsere Generation muss auch die Chance bekommen, etwas zu verändern.“ Als Lehrer am Leibniz-Gymnasium hatte Oberbürgermeister Weigel einen bevorzugten Ort, um den jungen Menschen dieses Kapitel der Geschichte nahezubringen: Im Treppenhaus der Schule hängt eine Gedenktafel mit fünf Namen der Schüler, die als erste Freiwillige der damaligen Oberrealschule in den Krieg zogen. Karl Schäfer, damals 16 Jahre alt, war einer von ihnen. Gefüttert mit einer ordentlichen Portion „Hurrapatriotismus“ und versorgt mit einem vorzeitigen Schulabschluss habe er schnell ein Held werden wollen. Wenige Wochen später fand er auf einem Schlachtfeld in Belgien den Tod. „Ich bin überzeugt, dass wir aus der Geschichte noch viel lernen und Kraft schöpfen können für unseren Einsatz für ein demokratisches und freies Land“, so Weigel, der im Anschluss an die Gedenkstunde zu einer Führung über den Hauptfriedhof lud. So schloss sich für die Teilnehmer des Rundgangs der Kreis: Vom Grab Karl Helfferichs, der mit seinen Agitationen gegen die Demokratie als einer der Totengräber der Weimarer Republik gilt, ging es zum Grab der zwölfjährigen Miroslawa, die als Tochter von polnischen Zwangsarbeitern 1944 in Neustadt starb. Am entgegengesetzten Ende des Friedhofs steht der Grabstein von Josef Bürckel, Gauleiter und verantwortlich für den Tod Tausender Juden. Seine Grabstätte ist offiziell abgelaufen und könnte abgeräumt werden. „Aber wir brauchen auch negative Mahnmale wie dieses von Gauleiter Bürckel“, erklärte Weigel: „Hier kann jeder besser als in einem Buch oder Film erkennen, dass diese Dinge tatsächlich auch in Neustadt passiert sind.“

Marc Weigel hatte sich dafür eingesetzt, dass das Grab von Miroslawa unter Schutz gestellt wurde.
Marc Weigel hatte sich dafür eingesetzt, dass das Grab von Miroslawa unter Schutz gestellt wurde.
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