Neustadt Bilder vom Leben auf der Straße

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Neustadt-Mussbach. Wie kann man Armut mit den Mitteln der Kunst darstellen? Man kann sie fotografisch dokumentieren. Aber es gibt auch eine Vielzahl anderer Möglichkeiten. Das zeigt die Ausstellung „Kunst trotz(t) Armut“, die aus Anlass des 20-jährigen Bestehens der Tagesbegegnungsstätte „Lichtblick“ von Sonntag an im Herrenhof in Mußbach zu sehen ist.

Genauer gesagt sind es Teile der Ausstellung, die vor neun Jahren vom evangelischen Bundesfachverband Ebet und der Diakonie Deutschland initiiert wurde und seitdem als Wanderausstellung in der ganzen Republik unterwegs ist. In der Ausstellung wird Armut dokumentiert und so gleichzeitig ein Zeichen gegen Armut gesetzt. Ihr wird also getrotzt. Einigen der beteiligten Künstlern ist das Phänomen dabei durchaus auch selbst bekannt, sie zeigen also, dass Kunst trotz Armut möglich ist. Fotos nehmen bei der Präsentation einen recht großen Raum ein, doch sind es nicht nur dokumentarische. „Kölner Bettler“ zum Beispiel ist eine Serie, die der bekannte Maler Sigmar Polke 1972 in Köln gemacht hat. Sie gehört zu den bekanntesten Arbeiten in der Ausstellung. Polke hat Menschen fotografiert, die auf der Straße betteln, und hat diese Fotos so bearbeitet, dass sie wie mit einem Grauschleier überzogen wirken – so als ob sich die Formen langsam auflösten. Durch diese Bearbeitung wirken sie ausgesprochen intensiv. Decken hat Wolfgang Bellwinkel fotografiert, Steppdecken, Decken mit Blümchenmuster, die berühmte graue Filzdecke mit dem Aufdruck Bundeseigentum. Es sind Decken, wie sie in vielen Haushalten zu finden sind, und die oft zum letzten Besitz von Menschen gehören, die auf der Straße leben. Sie sind für diese Menschen ein Stück Heimat, und das ist auch der Titel der Reihe. Den letzten Besitz von Menschen, die „Platte Machen“, hat auch Ingrid Bahß fotografiert und jeweils durch ein Portrait und Angaben zur Person desjenigen ergänzt, dem die Utensilien gehören. Der Betrachter erfährt so etwas über die Menschen, die sonst nur anonyme Gestalten am Straßenrand sind. Die Fotografin Karin Powser hat selbst einige Jahre als Obdachlose gelebt. Ihre Fotos bieten einen realistischen Einblick in dieses Leben, zeigen etwa eine alte Frau, die ihren gesamten Besitz auf einem Karren vor sich herschiebt. Den gleichen Themenkreis behandeln auch Gisela Rothkegel und Barbara-Maria Vahl in ihren Fotos, aber auch Portraits von Obdachlosen werden gezeigt. Wie Fotografien wirken auf den ersten Blick auch die Portraits von Helmut Mair, doch es sind in Wirklichkeit Zeichnungen. Bis ins letzte Detail hat der Künstler beispielsweise den von Runzeln durchzogenen, zahnlosen und ungepflegt wirkenden Kopf eines alten Mannes aufs Blatt gebracht. Aus Ton sind dagegen die Portraitköpfe von Obdachlosen, die Harald Birck geschaffen hat. „Auf Augenhöhe“ heißt seine ausdrucksvolle Skulpturenserie. Der Hamburger Michel ist ein Symbol saturierter Bürgerlichkeit, der Kontrast zwischen dem Kirchengebäude und dem davor stehenden Obdachlosen wird in einem Ölbild von Hans-Gerhard Meyer sehr deutlich. Im Gegensatz zu diesem kunstvoll ausgearbeiteten Gemälde sind die Kohlezeichnungen von Georg Kleber schnelle Skizzen von Szenen in einer Wärmestube, doch sie sind nicht weniger ausdrucksstark. „Homebanking“ ist der Titel der Ölbilder von Wilhelm Neußer, die nicht etwa das Erledigen von Bankgeschäften am heimischen Computer zum Gegenstand haben, sondern Bänke zeigen, die mithilfe von Kartons und anderen Utensilien zur Heimstatt von Obdachlosen werden. Eine andere Art von Wohnstätte sind die „Wohnräder“ von Liesel Metten, die von Haus aus Bildhauerin ist. Realistisch ist diese Wohnform natürlich nicht. Noch mehr im Reich der Phantasie verortet, sind die surrealistischen Traumbilder der Neustadterin Ilona Bogner. Sie ist mit Manuel Markx und Maik Sand eine von drei Künstlern aus der Region, deren Arbeiten die Wanderausstellung ergänzen. Die zeigt außerdem auch die Bilder einer Performance des Aktionskünstlers Adrian Basilius, der eine Kugel aus Armierungseisen von Frankfurt nach Düsseldorf rollte und dabei als Berber unterwegs war. Und natürlich ist auch Reichtum, das Gegenphänomen zur Armut, ein Thema. Klaus Kobel zum Beispiel hat sich damit in Karikaturen beschäftigt, die Menschen zeigen, die in Saus und Braus leben. Auch Josef Beuys befasste sich mit dem Luxus und seinen Auswüchsen. So etwa bei einer Aktion, bei der er auf Plakaten vor der Deutschen Bank warnt, ein durchaus aktuelles Thema. Auch ein Multiple mit dem Titel „The Orwell Leg“ stammt von Beuys. Es handelt sich dabei um eine gelöcherte Hose, die er wirklich getragen hat. Einen Klassiker der sozialkritischen Plakatkunst schließlich steuerte Klaus Staeck zu der Schau bei: „Würden die dieser Frau ein Zimmer vermieten?“ hat der Heidelberger Grafiker schon 1971 über die Reproduktion der berühmten Bildniszeichnung von Dürers Mutter geschrieben. Auch diese Arbeit ist bis heute brandaktuell. Die Ausstellung Die Ausstellung „Kunst trotz(t) Armut“ wird am Sonntag, 30. Oktober, um 10 Uhr mit einem Gottesdienst in der protestanischen Kirche in Mußbach eröffnet und ist bis 20. November in der Herrenhof-Kunsthalle zu sehen. Öffnungszeiten: sonn- und feiertags 11 bis 18 Uhr, dienstags von 9 bis 14 Uhr, mittwochs 18 bis 20 Uhr und samstags von 14 bis 18 Uhr. Eintritt: 5/2,50 Euro, mit ALG2 oder Grundsicherung frei. Zur Ausstellung wird ein Rahmenprogramm geboten. So spricht am Donnerstag, 10. November, 19 Uhr, der bekannte Jesuit und Sozialethiker Friedhelm Hengsbach im Casimirianum über „Armut in einem reichen Land“. Am Dienstag, 22. November, 20 Uhr, liest der Soziologe Stefan Selke im Casimirianum aus seinem Buch „Schamland – Die Armut mitten unter uns“. Und von 12. Dezember bis 7. Januar zeigen junge Neustadter Künstler in der Stadtbücherei Bilder zu „Kunst trotz(t) Armut“.

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