Ludwigshafen Schwieriger Seitenwechsel

Stadtfest-Samstag, kurz vor 22 Uhr: Alle glotzen gebannt auf den Fernseher in dem prall gefüllten Eiscafé. Draußen auf dem Berliner Platz starren Zehntausend auf zwei Großleinwände. Die Spannung ist kaum auszuhalten. Es ist die Ruhe vor dem Sturm. Die 95. Spielminute bricht an. Toni Kroos tippt gegen den Ball. Marco Reus stoppt ihn – und die Passmaschine von Real Madrid schlenzt das Leder aus spitzem Winkel mit einer Präzision ins rechte obere Eck des schwedischen Gehäuses, dass einem angesichts der unglaublichen Flugkurve zunächst der Atem stockt. Gänsehaut. Glücksgefühle. Dann brechen alle Dämme. Menschen kreischen und umarmen sich. Jungs in Trikots, Mädchen mit schwarz-rot-gold geschminkten Wangen. Eine Steilvorlage für Felix Jaehn. Der DJ legt seine Hits auf und feiert mit den Fußball-Anhängern eine furiose Fete im Stadtzentrum. Kroos’ Maßarbeit zum 2:1 – es hätte ein Freistoß für die Ewigkeit sein können. Oh weh, der Titelverteidiger ist zurück, zittern die Gegner. Wie geil, jetzt geht’s los, jubelt die Fangemeinde. Letztlich bleibt dieser Moment aus deutscher Sicht der einzige lichte in einer zappendusteren WM. Das Nicht-mehr-mitfiebern-Können seit dem blamablen 0:2 gegen Südkorea, es schmerzt. Am Sonntag steigt nun das Finale in Moskau – ohne uns. So lautete auch eine Interview-Reihe, bei der wir mit Ludwigshafenern ausländischen Ursprungs gesprochen haben, deren Nationalteams sich – mehr oder weniger überraschend – nicht für Russland qualifiziert haben: Italiener, Griechen, Türken, Holländer, Österreicher. Sie hatten nicht mal diesen einen prickelnden Augenblick. Ihnen wurde schon zuvor das Licht ausgeknipst. Andere Giganten dieses Sports hat es ebenfalls früher als erwartet erwischt: Argentinier, Spanier, Portugiesen – alle im Achtelfinale gescheitert. Die Brasilianer eine Runde später. Es müssen ja auch nicht immer dieselben gewinnen. Jetzt sind eben mal andere dran. Es sei ihnen gegönnt. Ein Dilemma bleibt: Im Chefzimmer unserer Redaktion ist es eine schöne Tradition, Zeitungsseiten mit den besten Schlagzeilen der WM-Turniere an die Wand zu heften. „Dieser Sieg macht euch unsterblich“, wurde etwa 2010 getitelt, als Poldi, Schweini und Co. die Gauchos in Südafrika mit einem satten 4:0 aus dem Sattel schossen. „Ohne Worte“ schrieb die „Bild“ 2014 nach dem epischen 7:1-Halbfinalsieg in Belo Horizonte gegen die Gastgeber. Den Treffern widmete das Blatt ganze Seiten. Der Ludwigshafener „Joker“ André Schürrle stach doppelt. Ein Blick auf diese Deko hebt die Laune und weckt glorreiche Erinnerungen. Bleibt die Frage: Was hängen wir jetzt auf? „Kroosartige WM-Party“, unsere Bilanz des Stadtfest-Wochenendes, das wäre eine Option gewesen. „Germania kaputt“, wie die italienische Nachrichtenagentur Ansa martialisch tönte, eher nicht. Ist nur Fußball, kein Krieg. Vielleicht drucke ich einfach die wahren Worte der ungarischen Trainer-Legende Gyula Lóránt aus, der einmal sagte: „Der Ball ist rund. Wäre er eckig, wäre er ja ein Würfel.“ Ein Zitat für die Ewigkeit. Die Kolumne Fünf Redakteure berichten für die RHEINPFALZ über Ludwigshafen. Ihre Erlebnisse aus dem (Arbeits-)Alltag nehmen die Redakteure in der Kolumne „Quintessenz“ wöchentlich aufs Korn.

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