Geschichten aus der Geschichte Nicht nur an Fasnacht werden die Frauen freier

Fasnacht in Rheinzabern 1927 oder 1928.
Fasnacht in Rheinzabern 1927 oder 1928.

Rheinzabern in den Goldenen Zwanzigern: Bierkrüge und Wimpel schmücken die Umzugswagen. Die Menschen drücken aufs Tempo. Bis die Nazis die Macht ergreifen.

Jede Menge Bierkrüge und sechs Dorfgrazien schmücken den Wagen der Bahnhofsrestauration des Bierbrauers Schott, die damals von Otto Sittinger II. betrieben wird. Sein mit Reitermütze beschirmter Sohn Otto III. blickt grinsend von oben herab. Während er sich an diesem Tag die Füße nicht schmutzig machen wird, dürfte es mit den weißen Damenstrümpfen am Abend anders aussehen. Allein Ottos Freundin Walburga aus Leimersheim war schlau genug und ist als Holländermädel mit Holzschuhen gekommen.

Fasnacht in Rheinzabern 1927 oder 1928.
Fasnacht in Rheinzabern 1927 oder 1928.

Trinken bis zum Umfallen

Noch passt der Ausdruck in den Gesichtern nicht zum Motto des Wagens: „Ich rate Dir trink Schotte Bier – §11“. Es ist die Aufforderung bis zum Umfallen Bier der Brauerei Schott zu trinken, kurz: „Es wird weitergesoffen“, egal was einen nach Hause rufen könnte. Frei nach dem Paragraf 11 in alten Handwerksordnungen, der den Gesellen eine Unterbrechung ihrer Wanderschaft verbot, egal welche Umstände eintraten; kurz: „Es wird weitergewandert.“ Ein Foto nach der feuchtfröhlichen Feier ist nicht überliefert...

„Charakterlos und leichtfertig“ – aber frei

Die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen ist nach Ende der Hyperinflation 1923 und vor der Weltwirtschaftskrise 1929/30 von wirtschaftlichem Aufschwung und Optimismus geprägt. Der „Siegeszug befreiter Lebensweisen“ zeigt sich auch in den Dörfern. Gerade die jungen Frauen dachten und benahmen sich anders, und sie sahen auch anders aus. Die moderne Frau war eher sportlich-hager statt weich und rund, sie trug möglichst kurzes Haar und immer kürzere Röcke. Zumindest in größeren Städten gelang ihr auch eine freiere Sexualität. Selbst in manchen Dörfern wie Leimersheim klagte der Pfarrer, dass sich „ein Teil der Mädchen charakterlos und leichtfertig“ verhielt.

Ausflug einer Gruppe aus Rheinzabern an den Rhein bei Leimersheim in den 20er Jahren mit Otto Sittinger III. (vorne Mitte). Er f
Ausflug einer Gruppe aus Rheinzabern an den Rhein bei Leimersheim in den 20er Jahren mit Otto Sittinger III. (vorne Mitte). Er fand in Leimersheim seine Liebe: Walburga alias Wally Ochsenreither.

Industrielle Produktion und Konsum nahmen Fahrt auf. Zum Temporausch kam es auch auf der Straße, wo Rasen als Mittel zur Vertreibung von Depressionen empfohlen wurde. Der Pkw-Bestand im Deutschen Reich vervierfachte sich zwischen 1924 und 1932. Und die Anzahl der Motorräder wuchs innerhalb von zehn Jahren, von 1921 bis 1931, sogar um das Dreißigfache.

Unfälle häufen sich

Während die meistens noch kopfsteingepflasterten Hauptstraßen in den Dörfern tempolimitierend und unfallverhütend waren, kam es immer öfters auf Landstraßen zu Zusammenstößen. 1926 stieß auf der Straße nach Hatzenbühl das Auto des Rheinzaberner Arztes Dr. Brand an einen Kirschbaum. „Infolge des starken Aufpralles überschlug sich der Wagen, wobei die Schwägerin des Arztes herausgeschleudert wurde, während Dr. Brand unter das Auto zu liegen kam.“

Hedwig Behr aus Leimersheim fuhr mit ihrem Motorrad in den 20er Jahren gerne zu ihren weit verstreut lebenden jüdischen Verwandt
Hedwig Behr aus Leimersheim fuhr mit ihrem Motorrad in den 20er Jahren gerne zu ihren weit verstreut lebenden jüdischen Verwandten.

Die Kontrolle über sein Fahrzeug verlor auch der Verursacher eines Motorradunfalles mit zwei Schwerverletzten vier Jahre später am Ortseingang nach Rülzheim bei Rheinzabern. „Bei dem Versuch, den 21 Jahre alten Motorradfahrer Heinrich Hochschild zu überholen, verlor anscheinend der Schlosserlehrling Friedrich Weiß aus Bellheim die Herrschaft über sein Motorrad. Er überrannte das Motorrad des Hochschild, wobei dessen 11 Jahre alter Bruder, der auf dem Sozius saß, auf die Straße geschleudert wurde, wo er mit schweren Verletzungen bewußtlos liegen blieb.“

Jüdische Motorradfahrerin muss fliehen

Mit Tempo und zu schnell gingen die Goldenen Zwanziger Jahre zu Ende. Die mit dem Ende des Jahrzehnts beginnende wirtschaftliche Krisenzeit ebnete den Nationalsozialisten den Weg an die Macht, die sie nach nur wenigen Jahren 1933 ergriffen. Die Folgen sind bekannt. Auch die begeisterte Motorradfahrerin Hedwig Behr musste mit ihrem Mann Herbert Baer und ihrer Tochter Lorle nach Amerika fliehen. Viele ihrer Verwandten wurden in den Konzentrationslagern ermordet, darunter auch ihre Cousine Flora Behr, die mit Dr. Karl Strauss, Lehrer und Vorstand der Jüdischen Gemeinde der Pfalz, verheiratet war. Ihre 1922 in Speyer geborene Tochter Margarete schickte das Ehepaar Strauss noch rechtzeitig in Sicherheit in die USA, wo sie am 6. Februar 2024 ihren 102. Geburtstag feiern kann.

Die 1922 in Speyer geborene Margarete Strauss (verwitwet Berman) mit ihrer 1935 geborenen Großcousine Lorle Baer bei ihrem wahrs
Die 1922 in Speyer geborene Margarete Strauss (verwitwet Berman) mit ihrer 1935 geborenen Großcousine Lorle Baer bei ihrem wahrscheinlich letzten Besuch in Leimersheim.

Mit der Brauerei Schott ging es schon vor 1933 zu Ende. Nachdem der letzte Sohn des Brauereigründers Jakob Schott bei einem Autounfall in Richtung Rülzheim tödlich verunglückte, übernahm die Brauerei Silbernagel in Bellheim die 1872 gegründete Schott’sche Brauerei und legte sie still. Das letzte Emailschild der Brauerei Schott dürfte spätestens Anfang 1933 von den Brauereigebäuden und Ausschankstellen verschwunden sein. Denn es war dem David- bzw. Judenstern zum Verwechseln ähnlich, den die Nürnberger Rassengesetze zum Ausgrenzungssymbol machten. Nach jüdischem Verständnis stehen die sechs Ecken für die sechs Schöpfungstage. Unter den Nationalsozialisten erlebte der Davidstern seinen Durchbruch als jüdisches Symbol. Heute ist er Teil der Nationalflagge des Staates Israel.

Sechszackiger Stern auch Schutzsymbol der Brauer

Zur selben Zeit, als der sechszackige Stern erstmals in einem jüdischen Gemeindesiegel verwendet wurde, wählten ihn auch süddeutsche Brauer als ihr Schutzsymbol. Sie deuteten die sechs Spitzen alchemistisch als die drei am Brauen beteiligten Elemente Feuer, Wasser und Luft einerseits und die im späten Mittelalter üblichen Zutaten Wasser, Malz und Hopfen andererseits. Die Nichtunterscheidbarkeit des Brauersterns vom Davidstern führte während des Nationalsozialismus dazu, dass Brauer ihre Brauersterne abänderten, damit sie nicht Ziel von Angriffen wurden.

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