Kreis Germersheim Nach dem Volksentscheid brechen die Dämme

Das Wahlplakat der DVP bei den Reichtstagswahlen 1932.
Das Wahlplakat der DVP bei den Reichtstagswahlen 1932.

Im September wird der Bundestag gewählt. Maßgebend ist die allgemeine, gleiche, direkte und geheime Verhältniswahl. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte die deutsche Republik dieses freiheitliche Staatswahlrecht eingeführt. Es prägte auch das politische Gesicht der Gemeinde Zeiskam.

«Zeiskam»Im Juni 1925 gehörte die 1915 Einwohner starke Ortschaft zu den größeren des Bezirks Germersheim. Die zu 69 Prozent protestantische Bevölkerung bestand hauptsächlich aus selbstständigen Kleinbauern. Auf dem konjunkturabhängigen Gemüse-/Zwiebelanbau lastete Inflation und französische Besatzung. Überschuldung, Preiszerfall und Absatzprobleme verschärften auch die Lage der Dorfhandwerker, -händler und landwirtschaftlichen Arbeiter. Dagegen fielen die wenigen auswärts beschäftigten Industriearbeiter kaum ins Gewicht. Das im Spätherbst 1918 eingeführte Verhältniswahlrecht beteiligte erstmals Frauen und die 20-Jährigen. 1016 Zeiskamer Wahlberechtigte waren 135 Prozent mehr als 1912. Wie sehr die Konfession das Stimmverhalten beeinflusste, zeigt die Dominanz der Rechtsliberalen. Das Gros der hiesigen Protestanten bevorzugte die Deutsche Volkspartei (DVP), Nachfolgerin der Nationalliberalen. 1919/20 behauptete die DVP ihre Hochburg mit rund 63 Prozent. Umgekehrt entfielen auf die katholischen Parteien Zentrum/Bayerische Volkspartei (BVP) 32,7 (Mai 1924) bis 23,3 (1933) Prozent. Ein knappes Drittel der Einheimischen waren Katholiken. Selbst unter widrigsten Bedingungen stimmten mindestens drei Viertel der katholischen Wähler bekenntniskonform. Mit nur zwei Ausnahmen (Mai 1924, 1928) lag die lokale Wahlbeteiligung teils erheblich über der von Reich, Land und Bezirk. Zudem belebte das Verhältniswahlrecht den politischen Wettbewerb: Traten im Kaiserreich höchstens 4 Parteien an, so waren es jetzt zeitweise ein Dutzend (1928). Ungeachtet der erweiterten Szenerie spielten lediglich die beiden politischen Hauptlager vor 1930 eine Rolle. Vor allem den Linksparteien ließ das wenig Raum. Das Spitzenergebnis der SPD von 15,4 Prozent (1919) blieb eine Eintagsfliege. Bis 1924 sank die Sozialdemokratie auf 9, dann auf rund 4 Prozent. 1932/33 halbierte sie sich erneut. Zuletzt folgten ihr noch zwei Dutzend Wähler. Der von Georg Michael Keller geführte Ortsverein mit anfangs 34 Mitgliedern (1921) existierte längst nicht mehr. Ein ähnliches Desaster erlitten die Kommunisten. Bei ihrem Debüt 1924 erhielten sie 3,3 Prozent, verschwanden aber bald in der Bedeutungslosigkeit. Dasselbe galt für die linksliberale Deutsch Demokratische Partei. Seit 1920 im Ein-Prozent-Ghetto gefangen, gewann sie ab 1930 keine Stimme mehr. Ein karges Splittergruppendasein fristete auch die konservative Deutschnationale Volkspartei – trotz einmalig erreichter 4,4 Prozent (1928). Im selben Jahr hatte die DVP mit 47,3 Prozent knapp die absolute Mehrheit verfehlt. Der äußere Erfolg täuschte: Denn die politische Umorientierung der Dorfgesellschaft war bereits in vollem Gang. Ursache war der totale Prestigeverlust der Liberalen. Diese hatten ihr politisches Kapital verspielt und ihre Bindefähigkeit eingebüßt. 1930 stürzten sie auf 2,4 Prozent ab. Um 1924/28 erlebten verschiedene Splitter- und Interessenparteien eine kurze Blüte: 1928 erzielte der Bayerische Bauern- und Mittelstandsbund 2,3, die Reichspartei für Volksrecht und Aufwertung 1,3 und die Wirtschaftspartei des Deutschen Mittelstandes 3,3 Prozent. Länger hielt sich der Christlich-Soziale Volksdienst (Evangelische Bewegung). Er begann mit 7,1, kletterte 1930 auf 11,7 und fiel 1932 auf 1,9 Prozent. Bürgermeister Mees sah im Mai 1928 „Unmut und Parteienverdrossenheit“. Rasch wuchs das Heer der „Wut- und Frustwähler“. Durch die Not der Weltwirtschaftskrise radikalisiert, strömte der agrarliberale Anhang zur NSDAP. Diese gab sich als junge, dynamische und unverbrauchte „Bewegung“. Ihr militant-aggressiver Stil, ihr völkisch-rassistisches, fanatisch antisemitisches Gedankengut und ihr messianisch verklärter Führerkult faszinierten. Geschickt bediente die NS-Propaganda selbst widersprüchliche Erwartungen, ohne sich festzulegen. Den Ton der Zeit trafen ihre antikommunistisch-antikapitalistischen Parolen, das Beschwören einer vom Ausland vermeintlich bedrohten Volksgemeinschaft und das unablässige Diffamieren der Demokratie. Protest hatte den „Völkischen“ im Mai 1924 vorübergehend 12,3 Prozent eingebracht. Dann verharrten die Nationalsozialisten unter 2 Prozent. Der Volksentscheid („Anti-Young-Plan“) im Dezember 1929 spülte bereits rund 3 Prozent NS-Bekenner ans Tageslicht. 9 Monate später brachen die Dämme: Exakt die Hälfte der Wähler machte die Gemeinde zur „braunen“ Hochburg. Das Ergebnis weit über dem Bezirksdurchschnitt wurde im Sommer 1932 auf 72,0 Prozent ausgebaut. Seit April 1930 existierte eine vom Landwirt Hermann Stubenbordt angeführte starke NSDAP-Ortsgruppe, SA- und SS-Ableger inbegriffen. Sie beherrschte bald die Straße. Nationalsozialisten seien mit der republikanischen Eisernen Front „beim Verteilen von Flugblättern in Zeiskam handgreiflich aneinander geraten“, berichtete die Regierung der Pfalz Ende April 1932. Gewalt und Tumult prägten auch dort den politischen Alltag. 73,1 Prozent (1933) dokumentierten, dass die NSDAP ihr Stimmenpotenzial ausgeschöpft hatte. Der Diktatur waren Tür und Tor geöffnet. Lese-Tipp Der Autor hat Zeiskams Staatswahl-Ergebnisse detailliert dargestellt: „Politik und Wahlverhalten in den Gemeinden des Bezirksamts Germersheim. Die Landtags-, Reichstags-, Reichspräsidentenwahlen und Volksentscheide von 1919 bis 1933“, in: Schriftenreihe zur Geschichte des Landkreises Germersheim, Bd. 4 (N.F.), Germersheim 2016, 276 Seiten, 19,80 Euro. Bestellung: VHS Germersheim, Tel. 07274/53-319 oder email: k.traeber@kreis-germersheim.de

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