Kaiserslautern Zeitgeschichte mit dem Zeichenstift

Einen offiziellen Titel „Comic des Jahres“ gibt es bei uns nicht, doch einige Medien und Fachmagazine führen Ranglisten. 2014 waren sich die Kritiker vielfach einig und wählten – völlig zurecht – zwei deutsche Zeichner jeweils auf die vorderen Plätze: Barbara Yelin mit „Irmina“ und Mawil mit „Kinderland“.

Mawil hat sich viel Zeit gelassen. Zehn Jahre liegt seine letzte lange Erzählung „Die Band“ schon zurück, die Erwartungen waren entsprechend hoch. Und tatsächlich ist dem Berliner Markus Witzel, wie er eigentlich heißt, ein großer Wurf gelungen. Als „300-Seiten-Vollfarb-Epos“ bezeichnet er seinen Comic über eine Kindheit in der DDR zwischen Jungen Pionieren und Kirche, um Freundschaft, Mut, Vertrauen und ein Tischtennisturnier am Vorabend der Wende. Hauptfigur ist Mirco Watzke, der sich in der siebten Klasse mit Schulrowdys herumschlagen muss. Nicht von ungefähr hat der Brillenträger die gleichen Initialen wie der Autor. Mirco sei „genauso ein kleiner Schisser“ wie er selbst einer war, verriet Mawil in einem Interview. Nur dass der 1976 in Ost-Berlin geborene Markus Witzel als schüchterner und stotternder Stubenhocker viel weniger erlebte. Das Autobiografische ist zwar tragendes Gerüst, wird aber kräftig ausgeschmückt. Mawil gelingt eine stimmige Erzählung über Kindheit in der DDR, einem kleinen altmodischen Land, wie er es beschreibt. Wieder erweist sich der gelernte Grafikdesigner, der zwischenzeitlich als deutscher Comic-Botschafter mit dem Goethe-Institut um die Welt reiste, als humorvoller Chronist des alltäglichen Lebens mit all seinen banalen Widrigkeiten und Absurditäten. Man nimmt ihm seine Geschichten ab, die Figuren – obwohl karikaturhaft gezeichnet – sind echte Typen. Man muss sie einfach mögen. Der Comic endet mit dem Mauerfall 1989, womit Mircos wohlbehütetes Leben aus den Fugen gerät. Das historische Großereignis bleibt aber Randgeschehen, viel wichtiger ist für den Jungen die persönliche Tragik: Das lange von ihm geplante Tischtennisturnier, mit dem er sich in der Schule profilieren wollte, fällt aus. Überhaupt spielt Tischtennis eine große Rolle in „Kinderland“. Spielszenen über Seiten hinweg zeigen, wie souverän Mawil die Comic-Kunst beherrscht. Nach ihm wird sich wohl so schnell kein Zeichner mehr an diese Sportart wagen. Verdientermaßen bekam er für „Kinderland“ schon im Sommer auf dem alle zwei Jahren stattfindenden Erlanger Comic-Salon den renommierten „Max-und-Moritz-Preis“. Auch die 1977 geborene Zeichnerin Barbara Yelin hat sich Zeit für ihren Comic genommen. Vier Jahre arbeitete sie an „Irmina“, und auch hier hat sich die Mühe gelohnt. Bis 2010 kannte man die Illustratorin hierzulande kaum, ihre ersten beiden Veröffentlichungen waren in Frankreich. Dann entstand mit Szenarist Peer Meter der Comicroman „Gift“ um einen historischen Bremer Kriminalfall. Inspiration für das neueste Werk, das sie wieder mit realistischen Bleistiftzeichnungen skizzenhaft und dezent koloriert ins Bild setzt, war nun das Leben ihrer Großmutter. In deren Nachlass fand sie einen Karton mit Tagebüchern und Briefen, aus denen sich „Bruchstücke einer Biografie“ ergaben, wie Yelin berichtete. Sie machte daraus die Geschichte einer gescheiterten Liebe. Die historischen Hintergründe recherchierte sie akribisch, für die Handlung nahm sie sich erzählerische Freiheiten: Die ehrgeizige Irmina reist Mitte der 1930er nach London, um eine Ausbildung zur Fremdsprachensekretärin zu beginnen. Dort lernt sie Howard aus der Karibik kennen, dem sie sich im Streben nach einem selbstbestimmten Leben verbunden fühlt. Durch den Oxfordstudenten beginnt sie, ihren Blick auf die Welt zu öffnen. Doch endet die Beziehung jäh, als Irmina – bedrängt durch die politische Situation – nach Berlin zurückkehrt. Sie heiratet einen SS-Mann, wird zur Mitläuferin. Der Mut hat sie verlassen. Barbara Yelin schildert in dem fesselnden, fast 300-seitigen Drama einen exemplarischen Lebensweg im deutschen Nationalsozialismus. Sie will Irminas Verhalten weder entschuldigen noch verurteilen, sondern Fragen nachspüren, die sich ihre Generation stellten: „Wie waren unsere Großeltern involviert, was hatten sie für eine Haltung?“ Wie Mawil vermittelt sie eindrucksvoll ein Stück Zeitgeschichte mit dem Zeichenstift.

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