Kaiserslautern Vom Gesellschaftsroman zur Twitteratur

Auf dem Buchmarkt ist derzeit eine merkwürdige Spreizung zu beobachten. Auf der einen Seite werden die Romane immer kürzer, fahriger und kleinmütiger. Zugleich gibt es immer mehr Megaromane, die ihren Lesern große Weltentwürfe versprechen.

Der schiere Umfang gilt als Zeichen von Bedeutung und garantiert mediale Aufmerksamkeit. Frank Schätzings „Breaking News“ (976 Seiten) und Donna Tartts „Distelfink“ (1024) standen auf Anhieb oben in den Bestsellerlisten. In den vergangenen Jahren verkauften sich Dickschiffe wie Roberto Bolaños „2666“ und Haruki Murakamis „1Q84“ erstaunlich gut, David Foster Wallaces 1547-Seiten-Wälzer „Unendlicher Spaß“ sogar über 100.000 Mal. Dieser Tage ist nun auch der 1280-Seiten-Band „Das achte Leben (für Brilka)“ von der Theaterautorin Nino Haratischwili erschienen, deren Bühnenwerke keineswegs so üppig ausgefallen waren. In Deutschland sind solche Riesenwerke, zu denen auch Uwe Tellkamps „Turm“ zählt, sonst eher selten. Aber aus den USA, wo Autoren traditionell zum Größenwahn neigen, kommen stets neue Überromane von Großschriftstellern wie Thomas Pynchon, Jonathan Franzen, Jeffrey Eugenides. Nach dem Motto: Große Themen wie Nazideutschland erfordern große Texte. Der Trend zu sehr kurzen und der Wirbel um die sehr dicken Romane gehören zusammen. In der vernetzten Welt, im Strom der Daten, verändert sich auch die Schreib- und Lesekultur. Man muss nicht gleich, wie manche Kulturkritiker, von „digitaler Demenz“ reden. Aber das digitale Dauerbombardement kann, wie der Medientheoretiker Douglas Rushkoff in „Present Shock“ gerade gezeigt hat, zu einem „narrativen Kollaps“ führen: Wenn alles gegenwärtig und verfügbar ist, überfordert dieses Überangebot das analoge Ich mit seinen begrenzten Ressourcen. Der Generation Facebook fehlt es offenbar an der Geduld, um Gedanken, Figuren und Handlungsbögen bis ans Ende zu verfolgen. Autoren-Newcomer bieten ihnen daher leichter verdauliche Häppchen an. Fabian Hischmann („Am Ende schmeißen wir mit Gold“), Matthias Nawrat („Unternehmer“) oder Dorothee Elmiger („Schlafgänger“) erzählen auf kaum hundert luftigen Seiten von Träumern und Grüblern mit schwachen sozialen Bindungen und starkem Reflexionsdrang. Zeitgemäßer als der klassische Gesellschaftsroman, schrieb Zoë Tannenbaum kürzlich im Onlinemagazin „Quemeda“, seien Formen der Kurzprosa: Geschichten, die mit der Tür ins Haus fallen, Thriller, die gleich auf der ersten Seite mit einem Mord aufwarten, nervöse, autistische Selbstbespiegelungen, Diskursbrocken und Poesie-Konzentrate. Nicht umsonst boomt die Poetry-Slang-Szene. „Große Erzählungen“ würden verdrängt durch kleine, schnellere, nichtlineare Erzählformen, das postmoderne Spiel mit Optionen. Der europäische Roman hat schon immer neue Erzählweisen konkurrierender Medien integriert. Was einst der Briefroman oder die filmische Erzähltechnik war, sind heute E-Mail-, SMS-, Twitter- oder Blogromane. Michael Rubin analysiert in „From Hemingway to Twitterature“ Textsorten wie „Nanofiction“, Graphic Novels, Handyromane und Streaming-Modelle; allen gemein ist die Auflösung des klassischen Werkbegriffs. Romane sind heute Software: Sie legen die Quellcodes ihrer Entwicklung offen und können, interaktiv, jederzeit und überall aktualisiert, kombiniert, geteilt und kommentiert werden. Gleichzeitig wächst der Wunsch nach einem längeren epischem Atem. Zwischendurch sehnen sich selbst manche der digital geschulten Leser nach etwas, das größer, nachhaltiger, bewegender, „authentischer“ ist als das Zwitschern und Flackern der Monitore. Müde des Surfens, träumen sie von dem großen Wurf, der die Splitter der Wirklichkeit noch einmal zusammen setzt; nicht zufällig boomt derzeit wieder der gute alte Familienroman. Auch steigt als Reaktion auf die digitale Häppchenwelt der Wunsch nach Nah- und Gemeinschaftserlebnissen. Deshalb diskutieren Menschen auf Plattformen wie Lovelybooks, Goodreads oder Sobooks Monsterromane wie „2666“ oder „Unendlicher Spaß“. So nährt ausgerechnet der Siegeszug der schwindsüchtigen E-Book- und Twitterliteratur den Kult um Großromane. Denn je dicker und dichter ein Roman ist, desto mehr sperrt er sich gegen digitale Verflüssigung und Verflüchtigung, und so schlägt Quantität in eine Qualität für sich um.

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