Kaiserslautern Nürnberg ist überall

Mit „Die Meistersinger von Nürnberg“ setzen das Badische Staatstheater und sein Generalmusikdirektor Justin Brown ihren Wagner-Zyklus fort. Die Premiere am Sonntagabend war ein musikalisch und sängerisch gelungener Abend, der dank der klugen Regie von Tobias Kratzer zudem auch sehr unterhaltsam geriet.

Ein Blick auf den Bühnenvorhang macht das ganze Dilemma deutlich: Der ist übersät mit Opernplakaten, Titelseiten von Programmheften und CD-Covern: „Meistersinger“, so weit das Auge reicht. Die Rezeptions- und Aufführungsgeschichte dieser vielleicht deutschesten aller der Deutschtümelei ja ohnehin nicht abholden Wagner-Opern erschlägt einen. Der Karlsruher Regisseur Tobias Kratzer und sein Ausstatter Rainer Sellmaier machen aus der Not eine Tugend: Sie inszenieren die Tradition einfach mit. Von Opernmuseum bis modernem „Euro-Trash“, wie die konservativen US-Musikfreunde das bisweilen über das Ziel hinausschießende Regietheater nennen, ist alles dabei – wörtliche Zitate inklusive. Wenn sich der Vorhang zum zweiten Aufzug hebt, fährt einem der Schreck in die Glieder: Die Karlsruher Bühne sieht aus, wie die „Meistersinger“-Szene bei der Uraufführung 1868 ausgesehen haben könnte, und erinnert an den Butzenscheiben-Kitsch, den auch ein Wolfgang Wagner noch gegen Ende des 20. Jahrhunderts auf die Bühne zauberte. Es ist wie die Begegnung mit einem Untoten, einem Zombie – und dennoch gibt es Szenenapplaus! Doch Tobias Kratzer zerstört die ästhetische Wohlfühlatmosphäre mit Macht. Über ein Zitat aus einer „Meistersinger“-Inszenierung von Wieland Wagner gelangt er zur Parodie auf zeitgenössisches Regietheater. Aus der Schusterstube ist jetzt ein Mister-Minit-Shop geworden, Eva sieht aus wie Cindy aus Marzahn in Giftgrün. Während sie sich hinter einem Müllcontainer mit Stolzing vergnügt, zettelt Sachs eine Massen-Keilerei an. Zusammen mit Wagners Musik ergibt dies einen Heidenspaß, den – wie man an den Buhs am Ende ablesen kann – manche jedoch viel zu ernst nehmen. Ernst wird es in dieser Inszenierung vor allem für Hans Sachs. Der muss nämlich nicht nur seinen eigenen Testosteron-Spiegel absenken und von einer stets zu allem bereiten Eva die Finger lassen. Mit der Frau zusammen überlässt er seinem Nachfolger Stolzing auch seinen Job: Bevor es zum großen Finale auf der Festwiese kommt, räumt er sein Büro in der Singschule, die in dieser Inszenierung wohl eher eine Musikhochschule ist. Jetzt ist die Jugend dran: Stolzing übernehmen sie! Doch dessen Weg führt durch Wahn und Alpträume. Ständig wird er eingeschränkt, bevormundet, verfolgt von Regeln und Vorschriften. Seine voraussetzungslose Kunst, ganz aus sich selbst heraus entwickelt, gibt es nicht. Die Tradition ist immer zuerst da, und Nürnberg ist überall. Selbst auf der Festwiese verfolgen ihn die Geister, die er nicht rief. Auf Bildschirmen laufen die Videos von berühmten Stolzing-Sängern der Vergangenheit und Gegenwart: Siegfried Jerusalem, Plácido Domingo, Peter Seiffert, Klaus-Florian Vogt. Daniel Kirch, der Karlsruher Stolzing, mag sich da recht klein vorkommen. Doch er kämpft sich frei, wirft allen Ballast von sich und und triumphiert über seinen Widersacher Beckmesser. Das Schlussbild zeigt ihn vor dem Hochschulchor in neuer Position. Doch die Geschichte wiederholt sich: Während der Probe bandelt Eva mit dem Nächsten an – so, wie sie es mit Stolzing zu Beginn der Oper getan hat. Die Regie rettet sich ins Private, verweigert eine Positionierung zur nationalistisch-deutschtümelnden Schluss-Apotheose der Oper: Sachs klebt das Plakat der Karlsruher Inszenierung auf den Vorhang und hält seinen Monolog als Privatsache. Das ist jedoch bei einer Oper, die so viel Öffentlichkeit und leider auch sehr ungute Öffentlichkeit erfahren hat, etwas unbefriedigend. Ganz anders als die musikalische Seite der Produktion: Justin Brown setzt weniger auf wuchtiges Festwiesen-Pathos denn auf kammermusikalische Sensibilität. Sehr detailverliebt leuchtet er die rhythmisch bisweilen äußerst vertrackte Partitur aus und ist zugleich auch ein zuverlässiger Begleiter der Sänger, die allesamt auch mit großartigen darstellerischen Leistungen begeistern. Allen voran Ensemblemitglied Renatus Meszar bei seinem Rollendebüt als Sachs. Er teilt sich seine Kräfte klug ein, gerät somit auch im höllisch anstrengenden Schlussaufzug nie in Schwierigkeiten und liefert ein berührendes Porträt eines zerrissenen, vom Leben enttäuschten Mannes ab, der gerne noch einmal an sein Lebensglück mit Eva geglaubt hätte. Diese wird von Rachel Nicholls mit leicht dramatisch angehauchter Stimme als selbstbestimmte junge Frau gezeigt, die sich nimmt, was sie will. Und den großartig singenden und spielenden Beckmesser von Armin Kolarczyk, den will sie eben nicht. Sondern, zumindest vorübergehend, den gerade in den Preisliedstrophen mit strahlender Stimme agierenden Stolzing von Daniel Kirch. Überzeugend auch Stefanie Schaefer als Magdalena und Eleazar Rodriguez als David.

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