Kaiserslautern Jahre der Selbstzufriedenheit

Gut ging es Kaiserslautern in der guten alten Zeit, die angeblich zwischen der Reichsgründung 1871 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 gelegen haben soll. Villen schmückten die Stadt nicht nur in der Parkstraße und im Benzinoring, prächtige Bürger- und Geschäftshäuser zierten auch die Stadtmitte. „Die Bahn schließt Kaiserslautern an den Weltverkehr an“, steht im Fremdenführer des Jahres 1912. Die Industrie boomte. Elsass-Lothringen war ein Hauptabsatzgebiet, und die Postkartenfotografen waren darauf versessen, möglichst viele rauchende Schlote auf ihre Platten zu bannen. Miserabel ging es Kaiserslautern in der guten alten Zeit. Kinderarbeit war noch oft genug an der Tagesordnung. 1912 quartierte die Stadt Obdachlose und sozial Schwache in Holzbaracken ein. Wohnraum gab es genug, aber er war unbezahlbar für die Pfenniglöhne der Arbeiter, die sich täglich 14 Stunden abrackerten. 1913 gab es etwa 400 Wohnungen mehr als Haushalte. Hinter den hübschen Fassaden in der Stadtmitte verbargen sich Schmuddelecken, abbruchreife, aber komplett bewohnte Häuser mit dem typischen Armeleutegeruch: ein Mix aus Abortmief, Schmierseifenaroma und Bratkartoffelgeruch. Im Krankenhaus mussten eine Entlausungsanlage und eine Infektionsstation eingerichtet werden. Die Lungentuberkulose grassierte. In der 1913 gebauten Walderholungsstätte brachte die Stadt tagsüber an Tuberkulose erkrankte Kinder unter. Im Vergleich zu 100 Jahren davor war die Stadt bis 1913, während der industriellen Gründerzeit, um das 14-fache auf 57.826 Einwohnern ange-wachsen. Was die bauliche Fortentwicklung betraf, machte Kaiserslautern jedoch offenbar schon seit 1900 eine Pause. Die Siedlungsentwicklung hatte vor dem Krieg erheblich nachgelassen. Das „bessere Bürgertum“ scheint den Zustand entspannter Ruhe und beschwingter Unterhaltung für die natürliche Daseinsform gehalten zu haben. Das fällt auf, wenn man die fünf Kaiserslauterer Zeitungen ein paar Jahre vor dem Ersten Weltkrieg durchblättert: Unzählige Frühlings-, Sommer-, Herbst- und Winterbälle wurden angekündigt. Glanzvolle Feste ohne Zahl. Auch der Sport kam nicht zu kurz: Fußball und Radrennen auf einer Rennbahn bei der Eselsfürth. Huldigungen und Grußadressen an Kaiser und König füllten „ergebenst“ Spalte um Spalte in den Zeitungen. Die Majestäten grüßten huldvoll zurück und kamen manchmal zu einer Stippvisite, wenn es etwas einzuweihen oder zu eröffnen gab. Nirgends eine Vision, wie sich Kaiserslautern fortentwickeln könnte, nur Jahre der Selbstzufriedenheit. Es ist bemerkenswert, wie frankophil sich Kaiserslautern und die Pfalz seit dem 1871er-Krieg entwickelt hatten, insbesondere was Vergnügungen, Mode, Mahlzeiten und Sprachgebrauch betraf. Französische Küche für Hausfrauen, Restaurants und Gaststätten waren en vogue. Aus einem Kochbuch von 1910 strömt der Duft französischer Köstlichkeiten: Kalbsklöße gedämpft, Schweinepfeffer elsässisch, Zwiebelsuppe parisienne, Fasan auf Kraut und das Rezept, wie ein selbst geschlachtetes Milch-Geißlein zuzubereiten sei. Über Frieden und Selbstzufriedenheit wachte der „Schutzmann“ mit seinem Notizbuch, schnäuzte sich, schnupfte eine Prise und zog seine Taschenuhr mit einem Schlüsselchen auf. Worauf musste er ein Augenmerk haben? Darauf, dass die ortspolizeilichen Vorschriften beachtet wurden: Den Fuhrleuten war es während der Fahrt verboten zu schlafen oder mit der Peitsche nach Passanten zu schlagen. Auch das damals „über Tag“ gängige Urinieren auf Straßen und Plätzen war unter Strafe gestellt. Der Paragraf 135 verbot, Hunde in das Stadttheater mitzubringen, und nach Paragraf 14 durfte man Geflügel nicht auf öffentlichen Plätzen laufen lassen. Wenn man ein paar Kaiserslauterer Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, der am 1. August 1914 begann, unter die Lupe nimmt, Zeitungen und Stadtliteratur zurate zieht, erkennt man die ganze Wahrheit der guten alten Zeit, die effektiven und die elenden Etappen vor einem Krieg, mit mörderischen Schlachten in Lothringen und den Vogesen. Außerhalb des Bahnrings war die Stadt bis zum Beginn des Kriegs nach allen Richtungen ausgewuchert. Im Süden wagte sich die Fabrikstraße über die Bahnlinie hinaus. Diese inoffizielle verlängerte Fabrikstraße mit ihren Hütten aus Blech, Dachpappe und Brettern war im Volksmund zu Neurussland geworden. Nissenhütten, Matschwege und unkontrollierte, ungeordnete Bebauung entstanden auch im Westen im Umfeld der heutigen Reichswaldstraße. Diese Slums blieben bis nach dem Krieg in die 1920er Jahre als Notwohnungen erhalten. Vor dem Krieg gab es auch schon Zeiten, in denen es Arbeiter wagten, wider die Stimme ihrer Herren aufzumucken: Erste Streiks gab es 1906, 1910 legten die Beschäftigten der holzverarbeitenden Betriebe die Arbeit nieder, im März 1914 „ausländische Erdarbeiter“ beim Ausbau der 23er Kaserne. Im April verschanzten sich 300 „ausländische Erdarbeiter“ im Stadtwald und drohten den Arbeitswilligen mit Knüppeln und Revolvern. Am 22. April beendete ein erster Tarifvertrag mit einer zehnprozentigen Lohnerhöhung den Streik. Vom Hochspeyerer Tunnel her nähert sich der Stadtführer von 1912 Kaiserslautern „unter dem Bergrücken durch, der die Wasserscheide zwischen Speyerbach und Lauter bildet, zum 27 Meter tiefer liegenden Hauptbahnhof…“. Mit 54.659 Einwohnern war Kaiserslautern die zweitgrößte Stadt der Pfalz. Der Jurist Hans Küfner war von 1905 bis 1918 Oberbürgermeister. Die Behörden werden aufgezählt: ein Bezirksamt, ein Landbauamt, ein Straßen- und Flussbauamt und einige mehr. Land- und Amtsgericht waren zusammen mit sieben Richtern besetzt. Die Schulen werden genannt, die Gaststätten, Bierhallen, Hotels und Restaurants nehmen fast zwei Seiten ein. Als Sehenswürdigkeiten bietet der Reiseführer die Stiftskirche an, die St. Marienkirche, die Synagoge, die Fruchthalle und das Gewerbemuseum.

x