Kaiserslautern Im fremden Haus

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Als Siegfried Lenz’ „Deutschstunde“ 1968 erschien, leistete der Roman einen wesentlichen Beitrag zur „Vergangenheitsbewältigung“ der noch nicht lange zurückliegenden NS-Zeit. Er wurde zum Klassiker und zur Pflichtlektüre an Schulen. Fast ein halbes Jahrhundert nach seinem Erscheinen hat Johan Simons am Hamburger Thalia Theater eine Bühnenfassung erstellt. Im Ludwigshafener Theater im Pfalzbau war seine „Deutschstunde“ nun als Gastspiel zu sehen.

Wenn sich im verdunkelten Theater langsam der Vorhang hebt, ertönen Möwengeschrei und knarrende Bretter wie an einem Schiffsanlegesteg, den der Wind umspielt. Wenn das Licht angeht, wird ein auf der Spitze stehender, weiß lackierter Holzquader sichtbar, der fast die gesamte Bühne einnimmt und in einem großen Spiegel verdoppelt wird. Auf der Schräge balanciert das auf wenige Romanfiguren reduzierte Personal. Manchmal müht sich ein Darsteller, Höhe zu gewinnen, manchmal rutscht einer ab und schlägt auf dem Bühnenboden auf. Ein treffendes Bild für die stete Gefahr, zum Unmenschen zu werden, oder aber sich zur Höhe von Mitmenschlichkeit aufzuschwingen. Möwengeschrei und Bretterknarren, die anfangs Küstenatmosphäre verbreiten, sind bald vergessen. Bettina Pommers vielsagendes Bühnenbild beherrscht den Eindruck. In dem Bretterwandgehäuse bewegen sich die Figuren wie in einem Gefängnis. Johan Simons, der frühere Intendant der Münchner Kammerspiele, hat Lenz’ vielschichtigen Roman über ideologische Verbohrtheit und den Konflikt zwischen Pflichterfüllung und Selbstbehauptung, blinden Gehorsam und Widerstand in einem Unrechtsstaat stark reduziert. In Susanne Meisters Bühnenfassung tritt die Kollision zwischen Staatsgewalt und Individuum, personifiziert durch den Polizisten Jens Ole Jepsen und den Maler Max Ludwig Nansen in dem fiktiven Nordseedorf Rugbüll, zurück hinter eine Familientragödie, die der Roman auch erzählt. Dessen Rahmenhandlung, die Erinnerungs- und Strafarbeit des Sohnes des Polizisten über „Die Freuden der Pflicht“ in einer Anstalt für schwer erziehbare Jugendliche, wird nur angerissen. Jörg Pohl als Siggi, in Knickerbocker und Pullover jugendlich gestylt, lässt sie zum Schein eines Feuerzeugs aufblitzen. Der dann dunkle Raum verstärkt noch die bedrückend klaustrophobische Atmosphäre, die sonst das Bühnenbild vermittelt. Jens Harzer als der rigoros ein Malverbot noch über den Zusammenbruch des Regimes hinaus durchsetzende Polizist und Familientyrann verbreitet mit seiner hellen, bisweilen schneidenden, nur wenig modulierenden Stimme das unangenehme Gefühl zurückgestauter Gewalttätigkeit, die jederzeit nur darauf wartet auszubrechen. Er muss keine Uniform mit Pickelhaube tragen, um Grauen vor dieser Autoritätsperson einzuflößen. Sebastian Rudolph als Maler Nansen darf emotionaler agieren, während Gabriela Maria Schmeide als Jepsens Frau in einem altmodischen braunen Kostüm ihrem Mann an Gefühlskälte in nichts nachsteht. Sebastian Zimmler als fahnenflüchtiger und durch Tiefflieger schwer verwundeter Sohn Klaas wird ausgeliefert, weil die Pflicht es so verlangt. Tochter Hilke, dargestellt von Franziska Hartmann, vertreiben die Eltern den epileptisch kränkelnden Verlobten Addi (Ferdinand Reinsch). Und Siggi, der Ich-Erzähler in Lenz’ Roman, wird zum Dieb und Häftling, weil er Nansens Bilder davor bewahren will, vom Vater verbrannt zu werden. „Das Haus ist fremd“, sagt Hilke unter Tränen zu ihrem Bruder. Johan Simons’ fast zwei Stunden dauernde Inszenierung des facettenreichen Romans ist wie aus einem Guss, nichts an ihr aufdringlich oder holzschnittartig. Zwischendurch verformt sich das Brettergehäuse auf dem Drehgestell einmal und nimmt wohnliche Gestalt an. Dann verharren die Menschen darin wie erstarrt in einer Pose, und Jörg Pohl als Siggi hängt wie der Gekreuzigte an der Wand. Zum Schluss gab es langen Applaus in einem nicht ganz ausverkauften Theater im Pfalzbau.

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