Kaiserslautern Himmelfahrt der Gelehrten

91-88787384.jpg

„Das Pfingstwunder“ heißt der neue Roman von Büchnerpreisträgerin Sibylle Lewitscharoff, der auch unter den 20 für den Deutschen Buchpreis vorausgewählten Arbeiten ist. Darin erzählt die 62-Jährige, die 2014 auch die Poetik-Dozentur der Universität Koblenz-Landau innehatte, von Himmel und Hölle: Sie wandelt auf Dantes Spuren. Im Mittelpunkt stehen 34 Gelehrte, die sich dessen „Göttlicher Komödie“ widmen.

Dante Alighieris „La Divina Commedia“, Italiens große Nationaldichtung, entstand Anfang des 14. Jahrhunderts und wurde in alle Sprachen der Welt übersetzt. Gelesen wird das in Terzinen geschriebene und aus 34 Gesängen bestehende Werk freilich eher selten, behauptet Sibylle Lewitscharoff in den Interviews zu „das Pfingstwunder“. Immerhin: Die „Dantisten“, welche die gebürtige Stuttgarterin zu dem von ihr selbst ausgedachten, dem großen Dichter gewidmeten Kongress im Saal der Malteser auf dem römischen Aventin einlädt, sind ultimative Experten. 34 Männer und Frauen aus verschiedenen Ländern und Erdteilen treten in 34 Kapiteln auf, mit all ihren Vorzügen und Macken. Das ist weniger penetrant, als man denken könnte. Halten sich die Referenten doch nicht sklavisch an die Reihenfolge der „Canti“, sondern streifen quasi absichtslos, stets unterhaltsam und an einzelnen Stellen verweilend durch Dantes Werk. Am leidenschaftlichsten vertiefen sie sich in die Gesänge des Purgatoriums, wo Dante – von seinem Kollegen Vergil tatkräftig unterstützt – seine Zeitgenossen wie auch historische Gestalten mit allerlei kruden Bußübungen bestrafte. Sie reden über die Verdammten in der Hölle, die nicht etwa unter Feuersbrünsten leiden, sondern kopfüber im ewigen Eis feststecken. Sie sprechen über die Vergleichbarkeit von Dantes Hölle mit den Konzentrationslagern der Nazis. Diskutieren über Vor- und Nachteile einzelner Übersetzungen, wägen die sich wandelnden Interpretationen aus diversen Jahrhunderten ab. Konstruktiv, selten sich streitend. Und abends – wie könnte es anders sein unter Kulturbeflissenen – wenden sie sich dem italienischen Essen zu, trinken und feiern miteinander. Von fein gesponnenen Intrigen, wie sie häufig unter universitären Elfenbeinturm-Bewohnern vorkommen, kann Georg Elsheimer, Romanistik-Professor aus Frankfurt und Lewitscharoffs willfähriger Ich-Erzähler, nichts berichten. Im Gegenteil. Je länger die Tagung dauert, desto ausgelassener gebärden sich die Gelehrten. Bis sich schließlich am Pfingstsonntag, als die Glocken vom gegenüberliegenden Petersdom die Ankunft des Heiligen Geistes verkünden, jenes Pfingstwunder ereignet, das Lewitscharoffs Roman seinen Titel verlieh. Eben wollten sich die „Dantisten“ Dantes „Paradiso“ nähern, da schwingen sie sich schon über die Fensterbrüstungen und schweben – up,up and away, wie es in Elsheimer innerlich tönt – Richtung Himmel davon. Bereits Stunden davor haben die ohnehin sprachbegabten, so euphorisch wie virtuos Dantes Verse rezitierenden Spanier, Österreicher, Griechen, Koreaner und Chinesen – um nur diese zu nennen – in allen neuen und alten „Zungen“ zu reden begonnen, wie er feststellen konnte. Elsheimer selbst bleibt sitzen, wie festgeklebt. Wie kam es, dass nur er nicht angesteckt wurde von der Verzückung bei der Versenkung in Dantes Meisterwerk? Warum schloss er sich ihrer fröhlichen Himmelfahrt nicht an? Der nach Frankfurt zurückgekehrte Elsheimer, der sich fortan ein bisschen gehen lässt, sich nicht wäscht und wenig isst, kommt nicht darauf. Mit den Erinnerungen, die Lewitscharoff ihm einflößt, öffnet sie den Lesern jedoch die Augen. Mitnichten nämlich ist er nur das Sprachrohr seiner Schöpferin, das in seinen Gedankenschleifen – eine ellenlange Literaturliste ersparend – all jene Exegeten, Übersetzer und Poeten vorstellt, die an dem fiktivem Kongress nicht teilnehmen konnten. Geistesgrößen wie Karlheinz Stierle, Kurt Flasch, Hermann Gmelin, Hannah Arendt; Dichter wie Rudolf Borchardt, Stefan George, Primo Levi, T.S. Eliot oder Ezra Pound, die Lewitscharoffs Roman stofflich unterfütterten. Nein. Elsheimer, betulich-charmant, junggesellig-behäbig, wuchs dazu noch in Stuttgart-Degerloch auf, ging auf ein schwäbisches Gymnasium und genoss eine schwäbisch-bürgerliche Erziehung, die es ihm nicht erlaubte, seinen bereits in den Lüften geistiger Erhellung befindlichen „Dantisten“ nachzufliegen. Die Hemmung merkt man ihm bis in die Sprache hinein an: Seine Forscher „halten sich den Bauch vor Lachen“, Wissenschaftlerinnen „kichern wie die Backfische“ – und zwar immer wieder. Dennoch: Da wird ein komplexer Stoff so humorvoll wie gescheit auf den Punkt gebracht. Lewitscharoff macht, dass man friert und sich fürchtet, so intensiv breitet sie Dantes Werk vor uns aus. Dass sie Georg Elsheimer zu einem Langweiler heruntergedimmt hat, ist allerdings bedauerlich. Ein Quäntchen dämonischer Frische hätte ihm nicht geschadet. Lesezeichen Sibylle Lewitscharoff: „Das Pfingstwunder“; Roman; Suhrkamp; 350 Seiten; 22 Euro.

x