Kaiserslautern Die Halsstarrigen

Endspurt beim zehnten Festival des deutschen Films in Ludwigshafen: Vor der Verleihung der Hauptpreise morgen kommen heute bereits die Stargäste Ulrich Tukur und Ulrich Matthes auf die Parkinsel. Sie spielen die Hauptrollen in der „Tatort“-Folge „Im Schmerz geboren“, die mit dem neuen Medienkulturpreis ausgezeichnet wird. Am Mittwoch war bereits Julia Jentsch mit ihrem neuen Film Inselgast, ebenfalls eine TV-Produktion. Der stärkste Wettbewerbsbeitrag aber ist die Kinoarbeit „Kreuzweg“.

Entspannt am Rheinstrand in Liegestühlen lümmelnd geben „Kreuzweg“-Regisseur Dietrich Brüggemann, Drehbuchautorin Anna Brüggemann und ihre 15-jährige Hauptdarstellerin Interviews. An Indien erinnert fühlt sich ob der Menschenmenge im ausverkauften Kinosaal Julia Jentsch, mit ihrem in Kolkata (früher: Calcutta) spielenden TV-Film „Monsoon Baby“ zu Gast. Und Autor Holger Joos, für „Ein offener Käfig“ mit dem Drehbuchpreis ausgezeichnet, ist so aus dem Häuschen über die Ehre, dass er seine Rede vergisst. Aber es doch schafft, seinem kompletten Team zu danken, das – entgegen Billy Wilders Weisheit, wonach allein das Drehbuch einen guten Film ausmache – erst einen Filmerfolg ermögliche: Ein festlicher Parkinsel-Abend mit bestens gelaunten Gästen und Zuschauern. Glanzvoll soll es weitergehen: Heute Abend kommen Ulrich Tukur und Ulrich Matthes aufs Festival – mit nahezu dem gesamten Team der skurrilen, zwischen Shakespeare und Tarantino-Rachefantasien angesiedelten „Tatort“-Folge „Im Schmerz geboren“, die den neuen Medienkulturpreis für mutige Fernsehredaktionen erhält. Der rote Teppich soll nach dem Abpfiff des WM-Viertelfinalspiels Frankreich-Deutschland gegen 20 Uhr bevölkert werden, bei Verlängerung und Elfmeterschießen entsprechend später. Und vielleicht mischen sich die Schauspielstars ja vorher unter die Fans, die im Strandzelt des Festivals das Spiel ab 18 Uhr auf großer Leinwand verfolgen können. Im Mittelpunkt auch der letzten Festivaltage aber sollten dennoch die Filme stehen. Schließlich kommt auch hier der Höhepunkt zum Schluss: „Kreuzweg“ ist bereits bei seiner Berlinale-Uraufführung mit einem Silbernen Bären bedacht worden. Anna und Dietrich Brüggemann erhielten ihn für ihr außergewöhnliches Drehbuch. Die Geschwister sind bereits wohlbekannte Parkinselgäste, schon ihre humorvollen Filme „Neun Szenen“ und „Renn, wenn du kannst“ liefen in Ludwigshafen. „Kreuzweg“ aber ist ein anderes Kaliber und ragt auch formal heraus– noch konsequenter als „Neun Szenen“: 14 als strenge Tableaus mit nahezu unbewegter Kamera gefilmte Kapitel hat die Studie über das Leiden einer Heranwachsenden an einer streng katholischen Indoktrinierung – so viele Stationen wie der Kreuzweg von Jesu’ Todesurteil bis zur Grablegung. Das Mädchen ist zudem genau 14 Jahre alt und trägt den Namen Maria. Diese Formalismen aber irritieren nicht, sondern sind nahezu notwendig, um die Geschichte verarbeiten zu können. Maria (Lea van Acken) steht kurz vor der Firmung, Pater Weber (Florian Stetter) bereitet sie auf ihre Aufgabe als Soldatin Gottes vor und fordert Opfer. Maria beschließt, nichts mehr zu essen: Sie will ihr Leben Gott zum Geschenk machen, um den kleinen kranken Bruder zu heilen, der mit vier Jahren noch nicht spricht. Auf ihrem Kreuzweg entsagt Maria fortan allen Freuden, wirft der Sportlehrerin gar vor, satanische Musik zu spielen (es wird zu Roxette gejoggt) und fügt sich der strengen Mutter, die ihr den Kontakt zu ihrem einzigen Freund verbietet, einem ebenfalls gläubigen Gleichaltrigen. Maria fühlt sich unverstanden, rebelliert aber nicht gegen die ihr verordneten Lehren, sondern steigert sich immer tiefer in einen religiösen Wahn hinein. Debütantin Lea van Acken spielt Maria so intensiv und zwingend, dass dem Zuschauer der Atem stockt. Zugleich gelingt es Anna und Dietrich Brüggemann, die in ihrer Jugend selbst einige Monate in der ultrakonservativen Pius-Bruderschaft verbracht haben (im Film heißt sie „Paulus-Bruderschaft“), den Glauben nicht zu denunzieren: Der Film klagt nicht an, sondern bemüht sich um genaue Psychologisierung. Und so versteht der Zuschauer tatsächlich, wie diese Familie tickt. Und begreift, wie leicht auch wohlmeinende Menschen Fanatiker werden können. Die Geschwister haben bewusst von christlicher Verblendung erzählen wollen, nicht vom Islam. Doch wirft ihr stets dicht an der Gefühlswelt der jungen Hauptfigur erzählter Film auch ein Licht auf mögliche Auswirkungen jedweder Indoktrination, ob religiöser oder politischer Natur. Eine Lösung aber bietet der Film nicht an, die letzte Szene ist zwiespältig. Moralische Fragen stellt auch Andreas Kleinerts Fernsehfilm „Monsoon Baby“ (zunächst unter dem gelungeneren Titel „Ein neues Leben“ angekündigt): Ein kinderloses Paar reist darin nach Indien, um sich das ersehnte Baby von einer Leihmutter austragen zu lassen. Julia Jentsch kann in der Hauptrolle ihr Können beeindruckend ausspielen. Doch hakt das Drehbuch an mehreren Stellen: Der Film überzeichnet die bereits außergewöhnliche Situation noch und wirkt bisweilen folkloristisch. Etwas zu viel wollte auch der am Mittwoch mit dem Drehbuchpreis ausgezeichnete Holger Joos im TV-Film „Der offene Käfig“, für den zusätzlich heute die zuständige SWR-Redaktion – wie das HR-Team um den Tukur-„Tatort“ – den Medienkulturpreis erhält: Das Drama beleuchtet, wie eine ländliche Gemeinde mit der Rückkehr eines Vergewaltigers umgeht, der seine Strafe abgesessen hat. Und überzeugt vor allem durch seine Schauspielleistungen. Oliver Mommsen, der den Halbbruder des Vergewaltigers spielt, sowie Catherine Flemming, die als vehemente Gegnerin der Wiedereingliederung des Mannes zu sehen ist, kommen heute zur Preisverleihung.

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