Kaiserslautern Das Leben ist böse, hart und ungerecht

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Einen Fußballfilm hat er auch gedreht: Beckenhauer, Netzer und Hölzenbein laufen in Glasgow auf einem abgegrasten Platz herum – und niemand beachtet sie! Natürlich sind es nicht die echten Stars, die Namen stehen auf den Shirts der Jungen aus der Unterschicht, für die Fußball das einzige Vergnügen in ihrem tristen Dasein ist. Denn der Brite Ken Loach, der im Mai seine zweite Goldene Palme in Cannes gewann und heute 80 wird, dreht Filme über das, was schief läuft in der Gesellschaft, in der Wirklichkeit, in der Politik. Er ist das soziale Gewissen Europas.

Vor exakt 50 Jahren begann er mit seiner selbst gewählten Mission, die Missstände in Großbritannien anzuprangern: in seinem ersten Spielfilm „Cathy Come Home“ (1966) über eine Familie, die obdachlos wird, weil der Mann seine Arbeit verliert, vom Sozialsystem nicht aufgefangen wird und ihr Baby ins Heim verfrachtet wird. In Loachs aktuellen Film „I, James Blake“, der gerade in Cannes gewann, hat sich die Lage nicht gebessert. Einer jungen alleinerziehenden Mutter, die unverschuldet zehn Minuten zu spät zum Termin aufs Amt kommt, will man ihre Kinder wegnehmen, weil sie keine Bleibe hat. Bis der ihr völlig fremde ältere Mann Blake einspringt, dem das Sozialamt wenig später ähnlich übel mitspielt. Ken Loachs erster Film löste noch eine landesweite Politdebatte über die Armut im Land aus, sein neuer nicht mal ein Achselzucken bei den Politikern. Aber Loach wird nicht müde, in immer neuen Geschichten, die unter die Haut gehen, zu zeigen, dass man gegen die Ungerechtigkeiten ankämpfen muss. Warum macht er das? Loach stammt selbst aus der Arbeiterklasse, sein Vater war Elektriker. Er ist das Musterbeispiel, das die Politiker gerne zitieren und das es in Wirklichkeit kaum gibt. Er lernte fleißig, studierte Jura mit einem Stipendium an der Elite-Uni Oxford – und vergaß nie seine Wurzeln. Auch nicht als er beim Fernsehen anfing, bei der BBC, die damals für ihre Dokumentationen bekannt war – und erst recht nicht, als er mit Spielfilmen begann. Seine Horror-Geschichten über Arbeitslose und Arme, die versuchen, ein bisschen Menschenwürde zu retten, sind deshalb so mitreißend, weil er oft Laiendarsteller nimmt, die aus dieser Schicht stammen. Sie sind authentisch, sie sprechen so harten Dialekt, dass die Filme selbst in Großbritannien nur untertitelt laufen. Und natürlich ist es wichtig, dass es immer wieder Momente des unerwarteten Glücks gibt, kurze Zärtlichkeiten in seiner brutalen Welt - und Humor. In In „Riff-Raff“ (1991) richten unterbezahlte Bauarbeiter für einen obdachlosen Kollegen illegal mit allerlei Verwicklungen eine leere Sozialwohnung her. In „My Name Is Joe“ (1998)“ laufen die schmalen, ausgemergelten Jungs, die der (Ex-)Alkoholiker Joe trainiert, in den Trikots der deutschen Weltmeisterelf von 1974 auf. „In Raining Stones“(1993) legt sich die Familie krumm, um der Tochter ein weißes Kommunionkleidchen auf Kredit kaufen zu können – und das Mädel hüpft begeistert in eine Pfütze. In „I, Daniel Blake“ springt Blake unvermittelt einem Sozialarbeiter auf den Tisch, und alle im Raum applaudieren. Im Laufe der Jahre hat Loach seine Façon, glaubwürdige auf der Realität basierende Geschichten zu erfinden und zu verdichten, immer mehr perfektioniert. Die Themen variieren. Auch ein paar historische Filme sind darunter, in denen er mit Mythen aufräumt, sei es über den spanischen Bürgerkrieg „Land and Freedom“ (1995), über die Anfänge der IRA („The Wind That Shakes the Barley“ (2006, seine erste Goldene Palme) oder die DDR: „Fatherland“ (1986) handelt von der Stasi und den Ausreiseverboten am Beispiel eines Liedermachers – und von den Nazis in der BRD. Letzteres wurde auf Drängen der deutschen Co-Produzenten gestrichen. Für sein Lebenswerk bekam der lange Zeit bekennende Trotzkist Loach schon den Ehrenlöwen von Venedig (1994), den Europäischen Filmpreis (2009) und den Ehrenbären der Berlinale (2014). Loach hat übrigens noch einen Fußballfilm gedreht: In „Looking for Eric“ (2009) erscheint einem Mann, der Selbstmord begehen will, der französische Fußballspieler Éric Cantona und gibt ihm Ratschläge. Die sind kurios, aber sie helfen.

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