Kaiserslautern BlauLaLa ist tot. Ein Nachruf

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Immer wenn es Sommer wird, beginnen wir mit dem Erzählen. Seit 21 Jahren ist das so. Schriftstellerinnen und Autoren schreiben Kurzgeschichten, Minidramen – Prosa, die auf eine Seite passt. Profis. Und Journalisten der RHEINPFALZ sind dabei. Das Motto dieses Sommers 2016, dem Dada-Jubiläumsjahr, ist dem Lautgedicht „Seepferdchen und Flugfische“ des Pirmasenser Dada-Erfinders und -Heroen Hugo Ball entlehnt. Ein Vers: „Zack Hitti Zopp.“ Heute schreibt der Schriftsteller Peter Roos.

Hall ist tot. Unser wundervoller Biolehrer. Dr. rer. nat. Bugo Hall. Er hat sein Leben in die Hand genommen und zack. Der Bogen von Bugos Leben flusch. Viola sollten wir spielen an seinem Begräbnis, er war Bratschist, abends. Und was er noch Alles war! Wunderbar. Einmal sagte er zu einem unserer Mädchen, wahrscheinlich zu Leila: „Sagen Sie Alles, aber sagen Sie niemals Tschüss!“ Er hasste dieses Wort, und wusste über dieses Wort doch mehr als Alle, als alle Anderen an unserem sogenannten „Hugo-Ball-Gymnasium Göllheimbolanden“. Hall hätte sagen können: „Mehr wissen über Wörter, die diesen Begriff verdienen, vor allem mehr als alle Deutschlehrer an dieser „höheren ,Schule’!“ Wobei er die Bezeichnung ’Höhere Schule’ immer mit einfachen Anführungszeichen sprach. Das hörte man, hörte man bis in die letzte Reihe. Hall war ein Mann, nein – Hall war ein Herr voller Verachtung. Wobei er selbst in der Verachtung demütig die ’Achtung’ mitschwingen ließ. Über seinen Vornamen haben wir uns oft mokiert. Irgendwann fragte einer, wahrscheinlich war es wieder Basch: „Warum heißen Sie denn eigentlich Bugo?“ Pause. Hall stutzte, warf das Haupt nach hinten, ’Haupt’, weil Hall nicht einfach einen ’Kopf’ hatte, Hall hatte Haupt, er stutzte wieder, fühlte sich sichtbar erheblich gestört, mitten im Bio-Unterricht eine solche Frage gestellt zu bekommen, schwieg, legte sein Skalpellchen zur Seite, schwieg, schwieg, schwieg so laut, dass wir unter die Bänke fliehen wollten, er war am Sezieren irgendwelcher Samenkelchchen irgendwelcher heimatlichen Hakenkreuzblütler weierhofensis, er öffnete dann wieder den Mund, denn vor Baschs Frage hatte er etwas über die Funktion der Farbe Braun in Natur und Gesellschaft doziert und war, weiterredenwollend, während seines „Grügrü“ stotternd, wohl „grün grün“ meinend, jedenfalls fing er sich und fragte Basch: „Und warum heißen Sie eigentlich Ballubasch?“ Fusch. Kitti rettete. Sie war eine Kanone in Bio. Natürlich verliebt in Bugo. Als ich ihr das einmal sagte, hat sie mir, meine Einfühlung war ausschließlich liebevoll, bumbalo bumbalo bumbalo, drei solche Backpfeifen aufs Ohr placiert, dass ich tagelang zittikitihitti hörte! Natürlich waren die beiden ein Pärchen, natürlich nur im Geiste der Biologie. Jedenfalls rettete Kitti mit Wissen und diesen unerhörten Bambo-Lippen, die vollmundig Weisheiten en gros entließen, dass das Veilchen lateinisch auch „viola“ hieße, und in Rosenthal eine Süßkirschensorte gezüchtet würde, die ebenfalls den Namen „Viola“ trüge. „Gerettetet!“, dachten wir, stocksauer auf Basch, den Knallkopf, der wieder bimibimibimi mitten im Unterricht fisch fasch fusch die gesamte Lehreinheit „Umgang mit Skalpell und Hakenkreuz“ zum Einsturz gebracht hatte, fast zum Einsturz gebracht. Denn, Dr. Hall nicht faul, begnadeter Rhetoriker, der er war, setzte nach, so wie im Abgang unter der Tür à la Columbo: „Wer weiß, welchen Vornamen Sie, Herr Ballubasch, bekommen hätten, wäre Ihr Vater Mitglied der NSDAP gewesen mit einer vierstelligen Parteinummer!“ Zick zack zopp. Das war Kopfstoff für unsere nächsten 4 x 48 Stunden plus Schuljahrrest. Fortan riefen wir Basch „Adolf“, und weil er einmal darüber in Tränen ausgebrochen war, wohl unter der Dusche nach dem Turnunterricht, unter der Dusche, aber wir haben genau gesehen, genau gesehen, dass das Salzwasser war, was aus seinen Augen dröhnte. Okay, der Kompromiss war „Adi“. Wie Adidas. Eben. War eh das Gleiche. „Dassler“ hieß auch „Adolf“ und ging 33 nicht nur nach Pirmasens, um das Sportschlappenflicken und Sportschuh-Schustern zu lernen, er ging 33 auch in die NSDAP. Flusch. Hall brach übrigens damals den Unterricht vorzeitig ab, mühte sich um ein Grinsen, warf sein gewöhnliches „Blaulala!“ in unsere Gesichter, dieses, nun ja, was ist das, ein ’Kunstwort’?, jedenfalls rief er immer „Blaulala“ ins Klassenzimmer am Ende, immer setzte er an den Schluss der sechsten Stunde am Freitag wie zum Startschuss fürs Wochenende dieses „Blaulala!“, kramte seine Skalpelle, seinen Samen, seine Hakenkreuzblütler zusammen und setzte sich in seinen rüttelalten roten R 4, der ihn columbolike vom Schulhof karrte, Hugo-Ball-Gymnasium Göllheimbolanden. Hall war der beste Deutschlehrer für uns. Bei ihm, mit ihm, von ihm haben wir in einer Biostunde mehr Literatur gelernt als in 24tausendfünfhundertundeinundneunzig Lehreinheiten Germanisten für Gymnasiasten. So Sprachschöpfungen wie „fisch fasch fusch“ haben wir natürlich nur von ihm. „Zikko zakko“ und „Tressli bessli“ und „Billabi billlabi“. Oder der Hass auf den blöden Ballaballduden des alltäglichen Dünnpfiffs der Schwätzer, das „Vertschüssen“ oder „Tschüssing“ oder „Tschö“ oder „Tschökes“ oder „Tschüssi“ und „Tschüssle“ und „Tschühüüüs“ mit 3 x „ü“. Wie Dr. Hall Wörter auseinander nahm und neu zusammen fügte, er hatte ein verbales Skalpell im Mund, und nie war das nur Hass für die Missachtung der Sprache. Wie er eine Hakenkreuz-Blüte biologisch auseinander nahm, so behandelte er auch den Duden. Wobei, Deutschlehrer waren für ihn alle, ausnahmslos alle, inbrünstig „Tschüssikowskies!“ Sagt alles, oder? Dabei war er eigentlich kein Florist. Er hatte seine Doktorarbeit „Das Sexualleben von Seepferdchen und die Fortpflanzung von Flugfischen in Süßwasserseen Westdeutschlands unter besonderer Berücksichtigung der Sumpfwaldforellen im Eiswoog“ mit summa cum abgeschlossen, aber nicht an der Volksschullehrerausbildungsanstalt Landau, darauf legte er Wert, auch nicht an irgendeinem Kolleg Koblenz, sondern sondern sondern, wir wissen es gerade nicht. Jedenfalls an einer richtigen Universität, Tübingen zB. Sein Buch erschien bei Springer in Heidelberg, wurde 27 Mal übersetzt, sogar ins Finnugristische. Dr. Hall war eine Koniphäre. Dann starb seine Frau. Und flusch. Hall war besonders. Jetzt wurde er sonderlich. Erst leicht sonderlich. Dann schwer sonderlich. Letztlich: Sonderlich sonderlich. Immer stand er in einer merkwürdigen Konkurrenz zum „Scheff“. Warum? Scheff der Schule war der Herr Magister Klaus Makus. Anglistik. Stilist. Brillant. Die Wortgefechte der beiden: mirakulös. Hall hat es darauf angelegt. Es waren Duelle. Auf Augenhöhe. Jeder hätte jeden umlegen können. Hamse aber nicht, obwohl Alle, Alle, Alle drauf gewartet haben. Makus ist ein Gutausseher, Hall ein Vierschröter. Hall sagte, Makus trage Bugo Hoss-Hosen, während er columbolike jahreszeitenimmun immer diese ewigen ewigen braunen Cordhosen trug, Breitcordhosen, in deren ausgeleierter Arschpartie man zwei Europameisterfußbälle hätte unterbringen können, vorne unterm Gürtel drei Saumägen und in Kniehöhe zusätzlich zwei dieser halbkugelrunden 50er Jahre Radkappen von der Sorte Brezelkäfer Baujahr 1950. Makus war Florettist, Hall Skalpelliker. Warum diese komische Konkurrenz? Dabei waren beide erklärte Nazihasser. Makus hatte sogar die Umbenennung unserer Schule durchgesetzt. Was das bedeutete, if you know what I mean! Die Anstalt war 1944 nach dem Uniformschneider-NSDAPisten „Hugo Boss“ von der SS benannt, if you know what I mean! Hall. Er liebte Frauen. Männer waren für ihn unnötig. „Evolutionär überflüssig!“, pflegte er einzuflechten. „Ab 14 wird gesiezt!“ Auch so ein Credo. „Wehe, wer abschreibt!“ Dito. „Da mache ich keinen Geschlechterunterschied!“ „Nur der Tausch des Pausenbrotes ist erlaubt!“ Dr. Hall. Was er auch hasste: Virilität und Koketterie. „Viriles und Kokettes hat in der Natur Nichts zu suchen!“ Er schickte Hitti, Mini, Bisch und Prusch aus seiner Biostunde, weil sie geschminkt, nabelfrei, dekollektiert in den Unterricht kamen, in transparenten, hautengen Hosen, die er ansah wie unter seinen Mikro und die ihn nach der visuellen Sektion dann erklären ließen: „Ich unterrichte nicht das Thema „Cellulitis und Orangenhaut’“! Deswegen auch seine Sympathie für Kitti, ihre umwerfende Intelligenz, ihre Natur, diese warmen Augen, selbst beim schärfsten Blick, vibrierte ihr Körper schmusevoll – Hall hätte sie einfach nach dem Tod seiner Frau heiraten sollen. Kitti war auch die, die ihm widersprechen konnte. Wir haben ihm alle immerzu widersprochen, aber die notfalls notwendige Fußnote fehlte. Kitti hat ihn manchmal in den Sack gesteckt: „Herr Doktor!“, rief die einfach Richtung Tafel: „Das ist doch Brehms Tierleben!“ Fusch! Oder einfach: „Spaghetti darf nicht sterben!“ Bam! Oder simpel: „Koblenz! Koblenz!“ Koblenz? Landau? Oder: „Konrad Lorenz!“ „Konrad“? „Lorenz“? Wo wir dachten, aha!, das könnten die zwei neuen Fußballer von Kaiserslautern sein. „Forschung geht weiter, Dr. Grzimek!“ Diese Kitti-Sottise hat ihn am Saumagen gepackt. Einmal kam sie sichtlich unvorbereitet in Bio, prompt prüfte er sie. Ergebnis: „Sie sind eine hinreißende Person, aber saufaul und eine 5!“ Alles hielt und hörbar den Atem an. Und er setzte noch Eins drauf: „So kriegen Sie keinen Mann!“ Völlige Fehleinschätzung! Wo garantiert 97 Prozent der Hugo-Ball-Buben in unserem Göllheimböländer Gümnäsiüm sich lebenslang dafür hätten verschulden wollen, wenn sie den BH-Verschluss vom Halter der Brüste von Kitti hätten öffnen dürfen! Vor allem mein Banknachbar Spurti, der dafür den elterlichen Gutshof in Zahlung verpfändet hätte. Kitti war kurz außer sich. Hall toppte: „Wobei Männer Menschen zweiter Klasse sind. Wer Nichts auf die Welt bringt, fliegt raus!“ Kitti stand auf, marschierte, ja richtig, marschierte zum Pult, baute sich dort auf und erklärte: „Wir sehen uns bei Magister Makus!“ Fusch, weg war sie. Zehn Minuten später retour mit unserem Direktor. Showdown. Alles hoffte, dass einer gewönne! Einer gewönne! Die Anglisten und der Mädchenschwarm wünschten sich den toten Hall im grünen Makus-MG auf dem Pausenhof, sahen schon ihren eleganten Magister, wie er, den toten Biologen über der Schulter, das verschlissene schwarze Stoffverdeck seines alten englischen Oldtimer-Sportscars mühevoll nach hinten drückte, um dem Leichnam den letzten Autositz under the open air zu gewähren, während wir, die Hallisten, hätten sofort die rostige Hecktür des roten R 4 geöffnet, um die letale Ladung Schulleitung platzsparend einzufädeln. „Eure Babybabyballaballadeutschlehrer würden das Streitkultur nennen!“, könnte Dr. Hall dazu geäußert haben. Von den „Abmahnungen“ war die Rede, die Magister Makus habe gezwungenermaßen unserem Doc habe verabreichen müssen und was noch Alles. Der Direx war im Recht. Sorry, aber er war im Recht. Vorn, an der Tafel. Bugos Hände waren längst an den langen Armen tief in seiner Cord bei den Radkappen, seine Frau war vor Kurzem gestorben, er hatte den Ehrendoktor eines Koblenzer Krypokollegs abgelehnt, und es war in der Schule bekannt geworden, dass sein roter R 4 nicht mehr durch den TÜV ginge. „Wir sind alle nur Männer, mein lieber Herr Kollege!“, sagte er sacht zu seinem Direktor, „hier haben Sie mein Skalpell!“ Er verneigte sich in aller Achtung. Klaus Makus war wie gelähmt plötzlich und nahm des Biologen Werkzeug in beide seine Hände, die sich wie automatisch geöffnet hatten. Dr. Hall sagte mit der wärmsten aller denkbaren Stimmen: „Mich ficht nichts mehr an!“ Dann drehte er sich leicht Richtung Klasse, lächelte leicht jenseitig, winkte leicht, winkte uns allen, jedem Einzelnen winkte er persönlich zu, sagte leicht laut hörbar leicht leise „Blaulala!“ und ward nie mehr gesehen. Der Autor Peter Roos, 1950 in Ludwigshafen geboren, in Göllheim aufgewachsen. Er lebt als freier Schriftsteller in Zimmern und in Wien. Er hat in Tübingen Literaturwissenschaften bei Walter Jens und Philosophie bei Ernst Bloch studiert. Bekannt durch die Romane „Vespa stracciatella“ und „Hitler Lieben“.

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