Kaiserslautern Aus der Zeit gestürzt

Die Musikwelt feiert das Strauss-Jahr 2014. Allenthalben stehen seine Opern auf den Spielplänen der Theater, seine Tondichtungen erklingen in den Konzertsälen. Der gebürtige Münchner Richard Strauss ist ein Gigant der Musikgeschichte.

Überproduktiv bis zum Schluss seines vier politische Systeme – Kaiserreich, Weimarer Republik, NS-Diktatur und die junge Bundesrepublik – umspannenden, erst 1949 endenden Lebens; übertrieben, fast krankhaft selbstbewusst, angetrieben von einem übersteigerten Sendungsbewusstsein ebenso wie von einer Urangst vor materieller Not – und gesegnet mit einem Genie, wie es in jedem Jahrhundert wohl nur ganz selten vorkommt. Einmal nur den Schlussgesang der Feldmarschallin am Ende des ersten „Rosenkavalier“-Aufzugs gehört, und alle Zweifel an der Person Richard Strauss wie an seiner musikhistorischen Bedeutung sind wie weggeblasen. Oder? 1948 lebt Strauss mit seiner Frau Pauline in der Schweiz. Europa liegt in Trümmern. Alles auch, woran dieser so deutsche Komponist geglaubt hat, ist vernichtet, korrumpiert. Die Kulturnation Deutschland ausgelöscht von einem politischen System, dem sich Strauss durchaus verbunden fühlte. Scham kennt Strauss in dieser Situation nicht. Nur Trauer, jene süßlich-wehmütige Melancholie, die sein ganzes Werk durchzieht, bricht sich auch in vier Kompositionen Bahn, die als sein Schwanengesang gelten dürfen. Als sein Weltabschiedsgesang: „Vier letzte Lieder“ nach Gedichten von Hermann Hesse und Joseph von Eichendorff. Bitte, man darf diese Lieder nur hören, wenn man bei bester seelischer Konstitution ist. Sonst verschlingt einen ein Abgrund an Traurigkeit wie sonst nur vielleicht beim Schlussgesang in Mahlers „Lied von der Erde“. Doch dieses stammt aus den Jahren 1907/1908. Mahler wusste noch gar nicht, wohin der Weg von Schönberg, Berg, Webern, wohin die Moderne führen würde. Strauss aber, 40 Jahre später, kannte das alles, was er auch schon mal als „atonalen Bockmist“ bezeichnet hat. Doch es war ihm egal. Er stellt sich völlig quer gegen seine Gegenwart und stimmt einen Klagegesang an, der völlig aus der Zeit gestürzt ist und uns aus einer Epoche herüberweht und herüberklingt, die noch nichts wusste von den Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Sobald man jedoch dann den Menschen Richard Strauss und seine Persönlichkeit ins Blickfeld nimmt, schlägt man sehr hart in der Wirklichkeit auf. Von tief empfundenem Weltabschiedsschmerz ist da kaum mehr etwas übrig. Dieser kettenrauchende, bayerisch polternde, mindestens ebenso derb wie seine aus der Münchner Bier-Dynastie Pschorr stammende Ehefrau Pauline vor sich hin schimpfende Kraftmensch, dessen größte Lebenspassion neben der Musik und seiner Familie und natürlich dem Geld-Verdienen das Skatspiel war; dieser Ur-Typ, ebenso kantig wie offensichtlich sehr charmant und für sich einnehmend – wenn er denn wollte und vor allem, wenn es ihm nutzte –, der sich so wichtig nahm, dass er sein eigenes Eheleben in „Intermezzo“ auf die Opernbühne brachte, dieser Richard Strauss ist offensichtlich in vielem ein ähnlich unsympathischer Zeitgenosse gewesen wie der von ihm verehrte Richard Wagner. Er beginnt als Gipfelstürmer. Mit sinfonischen Dichtungen, welche die von Berlioz und vor allem Franz Liszt geprägte Programmmusik auf einen neuen Höhepunkt führen. „Aus Italien“, „Macbeth“, „Tod und Verklärung“, „Ein Heldenleben“ erobern die deutschen und bald auch die europäischen Konzertsäle. Die Welt liegt dem Dirigenten und Komponisten Richard Strauss zu Füßen. Kritik kommt nur aus dem Lager der Klassizisten, die jede Programmmusik ablehnen, die wie der berühmt-berüchtigte Wiener Musikkritiker Eduard Hanslick Brahms als einzigen Beethoven-Erben akzeptieren und jenseits des von Beethoven eingeschlagenen Weges keinen anderen erkennen wollten. Auch der Vater von Richard Strauss, der Hornist Franz Strauss, gehört zu diesen Kritikern. Der Sohn ließ sich nicht beirren. Für ihn hatte die Sinfonie ausgedient, das strenge Formmodell, das, nebenbei, so streng ja längst nicht mehr galt und nur von Brahms unangetastet blieb, lehnte er als die Kreativität einengendes Korsett ab. Strauss setzte sich quasi selbst – unterstützt von mit ihm befreundeten Kritikern – an die Spitze einer Bewegung, die für sich in Anspruch nahm, Zukunftsmusik zu komponieren. Er suchte Ausdruck, strebte nach Expressivität – und fand zwangsläufig zum musikalischen Drama. Die frühen Opern „Guntram“ (1894) und „Feuersnot“ (1901) floppten zwar eher, aber mit „Salome“ (1905) und „Elektra“ (1909) katapultierte sich Strauss an die Spitze des Musiktheaters, allenfalls noch von Puccini in seiner Alleinstellung bedroht. Und dann, mit dem „Rosenkavalier“, folgt die kopernikanische Wende, aus dem Zukunftsmusiker wird jener Konservative, der er bis zu seinem Lebensende bleibt? Mit den Einaktern „Salome“ und „Elektra“ ist Strauss an seine Grenzen gestoßen. Größer ging nicht, da klingt durchaus die Gigantomanie der Jahrhundertwende mit. Eine Steigerung war nicht mehr möglich, was folgte, war die Zurücknahme: „Rosenkavalier“, „Ariadne auf Naxos“. Strauss′ Opern sind auch in den Folgejahren immer technisch und bezüglich der Instrumentation auf der Höhe ihrer Zeit. Sie sind modern – im Strauss′schen Sinne, indem sie alle Möglichkeiten ausschöpfen und auch keine Angst haben, in der Musikgeschichte zurückzublicken, das 18. Jahrhundert beispielsweise in einer hoch-artifiziellen Art wieder auferstehen zu lassen, die Berührung mit der Volksmusik ebenso wenig fürchten wie die Nähe zum bis fast zum Kitsch gesteigerten Pathos. Nur eines meidet Strauss wie der Teufel das Weihwasser: die Alleinherrschaft der Atonalität. Das hat er mit den NS-Kulturpolitikern gemein. Strauss sucht die Nähe zur NSDAP-Spitze, trifft sich mit Hitler, Goebbels, Göring, wird 1933 Präsident der Reichsmusikkammer, schaut zu, wie jüdische Musiker immer mehr aus dem Musikleben Deutschlands eliminiert werden. Strauss war sicher kein Antisemit, aber er war zunächst auf einer Linie mit der nationalsozialistischen Kulturpolitik, die an eine Überlegenheit der deutschen Kultur glaubte. Das hatte er mit Furtwängler gemein, und wie dieser geriet er dann auch in Konflikt mit der Diktatur, als die Gestapo 1935 einen Brief von ihm an seinen jüdischen Librettisten Stefan Zweig abfing. Darin schrieb Strauss, dass er den Präsidenten der Reichsmusikkammer nur „mime“. Aber es bleibt ein Rest Unbehagen. Auch wenn man auf so manche Textzeile blickt. „Und Du wirst mein Gebieter sein, und ich Dir untertan“, singt Arabella ihrem künftigen Ehemann Mandryka entgegen. Was soll man davon heute noch halten? Wenn es nur nicht so wunder-, wunderschön vertont wäre. Und, ganz ehrlich, am Ende des Tages müssen wir dann eben doch wieder ins Tagebuch eintragen: „Heute Richard Strauss gehört. Wieder viel geweint.“

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