Grünstadt Von der Ordnung, die nicht in Ordnung ist

Jörn Wilhelm war unter anderem 17 Jahre lang Pfarrer in Göllheim sowie später in Imsbach.
Jörn Wilhelm war unter anderem 17 Jahre lang Pfarrer in Göllheim sowie später in Imsbach.

„Mit ausgebreiteten Flügeln“ fliegt Jörn Wilhelm im zweiten Teil seiner Lebenserinnerungen durch seine Studienjahre. Wilde Zeiten, geprägt von den Studentenunruhen der späten 60er, denen Wilhelm auch seine politische Prägung verdankt. „Schließlich hatte ich ja immer schon zur Opposition gehört“, heißt es mehr als einmal in diesem fesselnden Lebensbericht eines Querdenkers.

Gut ein Drittel umfangreicher als der erste Band zur Kindheit und Jugend, umfasst dieser zweite nur die acht Jahre vom Beginn des Theologiestudiums in Erlangen bis zur Übernahme der ersten Pfarrstelle in Göllheim 1972. Die Bedeutung von Zeitzeugenschaft ist dabei neben der Lebensbilanz eine treibende Kraft beim Schreiben dieser Autobiografie, die viele Themen anschneidet: das Studentenleben in den 60ern, Jazzkneipen, die eigene Stube mit dem häufig zusammenbrechenden Bettgestell, das Verbot von Frauenbesuchen, Isetta und DKW, Zigaretten und Alkoholexzesse, Studentenjobs, darunter der erste beim Axel Springer Verlag, gegen den Wilhelm später mit vielen Mitstudenten auf die Straße gehen wird. Einen hohen Stellenwert hat auf diesen Seiten das politische Klima der Zeit, das Aufbegehren einer kritischen Jugend in den Nachwehen der NS-Zeit. Für den neuen Staat sei kennzeichnend gewesen, „dass es keine distanzierende Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit gegeben hatte und es eine personelle Kontinuität an allen Schaltstellen der Gesellschaft gab“, bilanziert Wilhelm. Der seelische Ballast, der aus der Diktatur in die Demokratie mit hineingetragen wurde, ist eine schwere Bürde der jungen BRD. Viel ist von Theologie die Rede. Die Selbstvergewisserung des jungen Studenten, der sich Bloch und Bonhoeffer als Leitsterne erwählt, ist das eine. Es geht aber auch darum, die Verstrickungen der Kirche in die NS-Zeit und ihre späteren Rechtfertigungsversuche zu beleuchten. Dazu berichtet Wilhelm nicht nur das Erlebte, sondern recherchiert auch über seine damaligen Lehrer. Das führt zu manch ernüchternder Erkenntnis. Nach dem Wechsel an die Uni Heidelberg – der Student heiratet und wird bald Vater einer Tochter – steigt der Puls. Die Studentenunruhen treten in ihre heiße Phase, der Schock über den Tod des Studenten Benno Ohnesorg trifft auch Jörn Wilhelm. Er ist nun mittendrin, mutiert „fast schon zum ,Street Fighting Man’, zum Straßenkämpfer“, und erlebt, wie er schreibt, bürgerkriegsähnliche Zustände in Heidelberg. Damals veröffentlichte Berichte vom Geschehen konfrontiert er mit der eigenen Zeugenschaft, bringt gewaltsame Übergriffe der Polizei zur Sprache, bis heute fühlbar empört und ernüchtert von brutalem Handeln der Staatsmacht. Der rebellische Geist findet auch Eingang in die Examenszeit, prägt erste Predigten und schlägt sich schließlich nieder in einem Ordinationsstreit, in dem sich Wilhelm, der sich für die pfälzische Landeskirche entschieden hat, und seine Jahrgangskommilitonen gegen die Förmlichkeiten der überkommenen Pfarrerordination zur Wehr setzen. „Diese Ordnung war nicht in Ordnung“, so Wilhelm. Der Streit beschäftigt bald Presse und Öffentlichkeit, führt zur Suspendierung der jungen Vikare und wird schließlich mit einem Kompromiss beigelegt. Wilhelm ist zu dieser Zeit Vikar in Oggersheim. Die Vikarswohnung – in der Nachbarschaft des Bungalows von Helmut Kohl – war zeitweise der Treffpunkt der Verweigerer der alten Ordinationsregeln. Die Nordpfalz spielt auch in diesem Band nur am Rande eine Rolle, doch wie schon im ersten Band Kindheitsmonate in Standenbühl und Bennhausen erwähnt werden, so kommt der in Hamburg aufgewachsene Pfarrer auch im zweiten in Berührung mit seinem späteren Wirkungskreis. Zum einen macht er sich 1966 mit seinem Bruder Wolfgang auf eine Pfalzwanderung, die ihn auch erstmals nach Steinbach bringt, wo er sich später niederlassen wird. Und im abgeschiedenen Niederhausen büffelt Wilhelm mit einem Kommilitonen fürs Examen. Auch der spätere Donnersberger Landrat Karl Ritter wird erwähnt – mit dem damaligen Schulrektor in Ludwigshafen gerät Wilhelm aneinander, als der in einer Rede die Akteure der Studentenunruhen in Heidelberg beschimpft. Auf diesen Seiten gibt es viel zum Schmunzeln, viel Anekdotisches, Berichte von kühnen Reisen mit wenig Geld, von Begegnungen etwa mit der Schauspielerin Elke Sommer. Dass der noch unerfahrene Theologe in spe den Pfarrer auf der Kanzel so versteht, dass der den Theologen Bultmann als „Käsemann“ beschimpft, sorgt beim Bruder für einen Lachanfall. Später nimmt Wilhelm in Heidelberg die Burschenschaften und ihre „barbarischen Männlichkeitsrituale“ aufs Korn und gründet eine „Anti-Verbindungsverbindung“ mit dem Namen Schuppjack. Lesenswert machen das Buch aber auch die prägnanten Charakterisierungen von Zeitgenossen, der klare Blick für wesentliche Lebenserfahrungen, die Offenheit und Selbstkritik – und die Geradlinigkeit der Haltung eines Geistlichen, der sein Handeln nicht an einem Gott ausrichtet, „der allmächtig das Schicksal verhängt“, sondern an dem, „der ohnmächtig am Kreuz hing“. Eines Pfarrers, der nicht an diesem Titel hängt, sondern sich in den Kirchengemeinden als „Arbeiter unter Arbeitern“ versteht, „genauso entfremdet, genauso nach Änderung rufend und genauso auf Solidarität angewiesen, die ja nur ein anderes Wort für ,Brüderlichkeit’ ist“. Lesezeichen Jörn Wilhelm: Mit ausgebreiteten Flügeln. Erinnerungen eines Landpfarrers. Band II: Theologiestudium und frühe Amtsjahre 1964 bis 1972. Norderstedt - Books on Demand 2017. 334 Seiten; 10,99 Euro.

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