Donnersbergkreis Ein souverän gemeisterter Kraftakt

„Nicht alle Musiker glauben an Gott, aber alle glauben an Johann Sebastian Bach“, sagte Mauricio Kagel, Komponist der Sankt-Bach-Passion. Der sogenannte „5. Evangelist“ setzte mit seinem Matthäus-Oratorium über die Leidensgeschichte Jesu mit zwei Chören, einem Kinderchor, zwei Orchestern und sechs Solisten Maßstäbe. Am Sonntag war sie unter der Leitung Stefan Wassers in der Stadthalle zu erleben und wurde vom Publikum mit lang anhaltendem Beifall gefeiert.

Viele der barockalen Texte über Sünde, Schuld und deren Tilgung durch Christi Blut mögen heute schwer erträglich sein – überwältigend bleibt die Musik, die menschliche Urerfahrungen wie Liebe, Verrat, Hass, Sensationsgier, Leiden und Sehnsucht nach Erlösung umsetzt. Am Sonntag führte Stefan Wasser das alleine schon durch die äußeren Dimensionen gigantische Werk – die Aufführung mit rund 150 Mitwirkenden dauerte fast dreieinhalb Stunden – mit dem Heidelberger Kantatenorchester, dem Nordpfälzer Oratorienchor, dem Chor der Konzertgesellschaft Bad Kreuznach und dem Kinderchor Münchweiler in der nahezu vollbesetzten Stadthalle auf – zweifellos ein glanzvoller Meilenstein in der langen Reihe der Wasser-Konzerte. Ein souverän gemeisterter Kraftakt. Der Chorleiter dirigierte mit dem gewohnten Feuer und gleichzeitig gezügelter Leidenschaft, gelöst und mit prägnanten Gesten. Von geringfügigen Einsatz-Schwankungen abgesehen, wuchsen Sänger und Instrumentalisten zu einer ebenso opulenten wie durchdrungenen Einheit zusammen – günstig wirkte sich dabei die Akustik der Halle aus. Die beiden Chöre bestachen durch ihren homogenen Klang, sensibel differenzierte Strahlkraft und Dynamik, durchgängige Transparenz – und besonders ihre sängerische Intensität. Fabelhaft, auf welches musikalische Format Laien geführt werden können! Einen hübschen frischen Farbtupfer setzte in Teil I der Kinderchor, wenngleich er unter der Stimmgewalt der Erwachsenen etwas verdeckt wurde. Eine glückliche Hand bewies Wasser mit der Auswahl der Instrumentalisten – eng aufeinander eingespielte und hochinspirierte Musikstudenten, -lehrer, Berufsmusiker. Auf gleicher Ebene mit diesem feinabgestimmten und gut besetzten Klangkörper konzertierten die Solisten. Christoph Wittmann in der Rolle des „moderierenden“ Evangelisten überzeugte mit seinem voluminösen, markanten Tenor und nicht zuletzt durch scharfe Artikulation: Da saß jede Silbe. Martin Steffan, der die Tenor-Arien sang und unter anderem Jesu Todesangst im Garten Gethsemane kommentierte, gefiel mit seiner warmen, weittragenden und ausdrucksvollen Stimme. Kraftvoll und mit vielgestaltigem Timbre interpretierte der Bariton Michael Roman die Bass-Arien. Zuletzt trägt er den Gekreuzigten zu Grabe – im eigenen Herzen. Packend: „Mache dich, mein Herze rein“. Buchstäblich „zutiefst“ anrührend: der durchdringend warme, in allen Lagen sonore Bass von Joachim Herrmann als Jesus – was für ein Organ! Gunda Baumgärtner bezauberte einmal mehr mit ihrem opernhaft schillernden Koloratursopran, den sie hier allerdings eine Spur zu soubrettenhaft-theatralisch einsetzte. (Ihrer Partie fällt die Thematisierung der Liebe des Heilands zu.) Almut Pessara, Alt (von Buße und Reue getrieben), steigerte sich beachtlich im zweiten Teil: Mit zum Höhepunkt wurde ihr Dialog mit der Solovioline in „Erbarme dich, mein Gott!“. Die Konzertmeisterin Jeanette Pitkevica spielte dazu ihre wunderbare Melodie mit so viel Seele wie Sinnlichkeit. Eine Fülle ständig wechselnder Klangfarbenspiele lassen das Mammutwerk strahlen und geben ihm mitreißende Emotionalität. Fesselnd etwa der Geiger Eckhart von Hahn, der die Judas-Arie („Gebt mir meinen Jesum wieder!“) expressiv und aufwühlend begleitet. Oder der konzertante Dialog von Gambe (Renate Mundi: ergreifender Tonfall) und Tenor, als er das Schweigen des angeklagten Jesus vor dem Hohen Rat schildert und deutet. Oder die Flötenstimme (Regina Kaufmann), die hirtenhaft und elegisch den Sopran („Aus Liebe will mein Jesus sterben“) untermalt. Bis zum Ende nicht nachlassende Spannung geht von der Dramaturgie aus, die kunstvoll auskomponierte Arien und Rezitative im großen Opernton, Chorsätze, die aufgeputscht „Volkesstimme“, geifernde Hohepriester oder gläubige Seelen darstellen, mit tradierten Chorälen verbindet. Etwa „Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen?“, so schlicht wie eindringlich in unverstellter Volksfrömmigkeit. Als Leitmelodie durchzieht „Oh Haupt voll Blut und Wunden“, in sich ruhend, tief trauernd und existenzielle Betroffenheit und Fragen aufreißend, das dramatische Passionsgeschehen wie ein roter Faden. Die Chöre singen diese zentralen, liedhaften Passagen mit Wucht und elementarer Innerlichkeit – und am bewegend-sten, wenn sie ganz leise sind. Was bleibt, ist Erschütterung. Sie wirkt nachhaltig. Mit minutenlangem Beifall im Stehen würdigte das Publikum die großartige Ensembleleistung. Vor dem Konzert gedachte Wasser zweier vor kurzem verstorbener Chormitglieder – Karl Stepan und Albert Schneider. Am Rande erwähnt als nette Geste: Mehrere Karten waren an musikliebende Tafel-Kunden verschenkt worden.

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