Kultur Rettet ihn!

König Richard (Constantin Goubet) im Kerker.
König Richard (Constantin Goubet) im Kerker.

Was hat Richard Löwenherz mit dem gefangenen Florestan aus Beethovens einziger Oper „Fidelio“ zu tun? Und wie wurde aus dem von Mythen umrankten König seinerseits ein europaweit erfolgreicher Opernheld? Letzteres geriet in jüngster Zeit in Vergessenheit. Zu unrecht, wie just am Ursprungsort der Sage von der Befreiung des gefangenen Helden durch den treuen Freund und Sänger Blondel, in Reims, zu entdecken war.

Ein Mann schmachtet im Kerker, natürlich unschuldig. Schon einen ganzen ersten Akt lang. „Gott, welch Dunkel hier!“ singt Florestan dann zu Beginn von Akt zwei in Beethovens „Fidelio“. „Mag alle Welt mich auch verlassen“, beklagt der königliche Kreuzfahrer Richard im Verließ des Schlosses von – das Libretto sagt – Linz in André Grétrys Löwenherz-Oper. Dann spürt ersterer sanft säuselnde Luft und die Gattin Leonore als tröstenden Engel an seiner Seite, der andere findet Trost beim Blick auf das „holde Bild der süßen Freundin“, Margarethe von Artois, der er im wahren Leben nie begegnet ist. Beide Herren sind Tenöre und haben nicht nur die Kerkerhaft, sondern ziemlich anspruchsvolle Arien zu bewältigen. Beide werden sie am Ende gerettet – und gaben so einer eigenen Gattung ihren Namen: der Rettungsoper. An den Sieg von Gerechtigkeit und Freiheit glauben Regisseure von heute im Gegensatz zum Publikum des vorrevolutionären Frankreich schon lange nicht mehr, weswegen Beethovens „Fidelio“ schon so manche Umdeutung erfahren musste – und Grétrys „Richard Cœur de Lion“ aus dem Repertoire verschwunden ist. Er hat sich dort bis ins 20. Jahrhundert gehalten und damit sehr viel länger als – Beethovens Solitär ausgenommen – manch andere Vertreter der Gattung, der kein langes Leben beschieden war und die nur wenige Werke hervorbrachte. Zu den bekannteren gehört etwa noch Luigi Cherubinis „Wasserträger“. Dass auch hier die Ständeunterschiede zwischen Aristokratie und einfachem Volk aufgelöst werden, gesellschaftliche Veränderungen sich also in Musik und Theater offenbaren, ja diese gar vorwegnehmen, ist ein weiteres Kennzeichen der „opéra sauveur“ als Kind der Vorrevolution. Da kann es passieren, dass nicht etwa dem Titelhelden – also Löwenherz – , sondern dem Diener die wahre Hauptrolle zufällt – also Blondel, dem getreuen Troubadour, der von Burg zu Burg zieht und eine Weise anstimmt (oder, wie in der Oper, auf seiner Geige spielt), die nur der König kennen kann. Und die, nach der Uraufführung am 21. Oktober 1784 an der Pariser Opéra Comique, die sprichwörtlichen Spatzen von den Dächern sangen. Beethoven komponierte dann um 1797 über das Thema eben dieser Romanze Blondels, „Une fièvre brulante“, acht Variationen für Klavier. „Richard Löwenherz“ wurde zum gesamteuropäischen Hit. 1785 spielte man ihn auf Deutsch am Hof von Darmstadt – die Bühnenbildentwürfe scheinen die romantischen Mittelalter-Ideen des 19. Jahrhunderts vorwegzunehmen (vorweggenommen hat Grétry übrigens in seinen theoretischen Schriften auch die später Richard Wagner zugeschriebene Erfindung des verdeckten Orchestergrabens); 1786 konkurrierten in London an Covent Garden und Drury Lane zwei Inszenierungen; es gab Übersetzungen ins Italienische, Dänische, Russische, Schwedische, Polnische, Spanische, Niederländische. 1806 dankte der letzte Kaiser des Heiligen Römischen Reichs ab, Wien applaudierte „Richard Löwenherz“. Der Komponist, der 1741 im belgischen Lüttich geborene André-Ernest-Modeste Grétry, hat neben diesem noch rund 70 weitere Bühnenwerke komponiert. Am Hof von Versailles war er Musikmeister von Königin Marie-Antoinette; eine Arie aus seiner Oper „Die Caravane von Kairo“ von 1783 wurde, leicht verändert, zum populären Lied der Grande Armée („La Victoire est à nous“) – und Grétry zum Protégé Napoléons. Der wohl wichtigste Komponist Frankreichs in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts starb 1813 in Montmorency bei Paris, auf dem ehemaligen Anwesen des Aufklärungs-Philosophen Jean-Jacques Rousseau. Seine Werke aus einer auch musikalischen Umbruchszeit – ein Konkurrent von Grétry in Paris war der als Opernreformator in die Musikgeschichte eingegangene Christoph Willibald Gluck – wieder zu entdecken, hat sich die junge Truppe von „Les Monts du Reuil“ aus Reims zur Aufgabe gemacht, an der Oper der Stadt so etwas wie „artists in residence“. Nach „Raoul Barbe bleue“ in der vergangenen Saison nun also „Richard Löwenherz“ – in etwas abgespeckter Form, ohne Landvolk und Soldaten, ohne große Chöre also und um ein paar Figuren der Handlung beraubt: eine Fassung für zehn Instrumentalisten, fünf Sänger, zwei Tänzer und einen Techniker, wobei fast jeder der Mitwirkenden vielfältige Talente unter Beweis stellen kann. Blondel Guillaume Gutierrez geigt selbst und kann das als ausgebildeter Violinist auch, Bratscher Jean-Pierre Garcia bedient die große Trommel mit, alle helfen mit bei Umbauten. Etwa so, wie es die mittelalterlichen Spielleute, die Menestrels, taten, die auch die Geschichte von der Befreiung des englischen Königs aus der Gefangenschaft verbreiteten. Die älteste Version der Blondelsage stammt aus den „Récits d’un Ménestrel de Reims“ um 1260. Mit ihrer Richard-Löwenherz-Version sind die Opernschatzgräber von „Les Monts de Reuil“ also an den Ursprungsort zurückgekehrt.

Art Déco pur auch im Treppenhaus und in den Foyers.
Art Déco pur auch im Treppenhaus und in den Foyers.
Warme Farben, elegante Formen: Art Déco im Zuschauerraum.
Warme Farben, elegante Formen: Art Déco im Zuschauerraum.
Troubadour Blondel (Guillaume Gutierrez), Multi-Talent.
Troubadour Blondel (Guillaume Gutierrez), Multi-Talent.
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