Rheinpfalz Die schlimmste Nacht

Paris und ganz Frankreich stehen nach den schwersten Terrorangriffen in der Geschichte des Landes unter Schock.

Der Präsident ordnet mit belegter Stimme Staatstrauer an, nachdem der Freitagabend zum Albtraum geworden war – für Menschen, die nach einer Woche der Arbeit das Leben genießen wollten.

Am Tag danach kehrt Stille ein. Die Sirenen der Einsatzwagen von Polizei und Ambulanz sind verstummt. Die Maschinenpistolensalven der Terroristen sind verhallt, der Explosionsdonner, den das Zünden ihrer Sprengstoffgürtel ausgelöst hatte, ebenfalls. Augenzeugen, die schluchzend und stammelnd nach Worten suchten, haben die Fassung wiedergefunden. Nicht einmal die Alltagsgeräusche sind zu vernehmen, die einen Pariser Samstagmorgen prägen. Da ist kein Kindergeschrei auf den Schulhöfen, es traben keine Jogger keuchend über das Marsfeld am Eiffelturm. Das Verkehrsaufkommen am Seine-Ufer ist so gering, dass Vogelgezwitscher ans Ohr dringt. Aber das ist ja auch nicht Pariser Alltag. Es ist der Ausnahmezustand nach den schwersten Terroranschlägen in der französischen Geschichte. Vor dem Fußballstadion im Vorort Saint-Denis, auf Bistro-Terrassen der trendigen zehnten und elften Arrondissements oder auch im Konzertsaal „Bataclan“, wo die Band „Eagles of Death Metal“ 1500 Rockfans einheizte: An sieben verschiedenen Tatorten haben islamistische Terrorkommandos am späten Freitagabend zugeschlagen, mit großer Brutalität und fast zur selben Zeit. Vor dem „Bataclan“ legen Passanten Blumen nieder. Ein Anwohner rollt ein Klavier über den Gehweg, intoniert „Imagine“ von John Lennon, „um den Opfern die letzte Ehre zu erweisen“, wie der Pianist sagt. Eine Frau erkundigt sich nach dem Krankenhaus „La Pitié Salpétrière“. Sie will Blut spenden für die Opfer. Es hätte jeden treffen können, mich auch, sagt sie. Menschen haken sich unter, stimmen die Marseillaise an, die so entschlossen vorwärts drängende französische Nationalhymne, machen sich auf den Weg Richtung Place de la République. Bis auf weiteres sind alle Kundgebungen verboten, aber diese spontane ist erlaubt. Unter den Augen der Polizisten findet sie statt. „Wir dürfen uns nicht unterkriegen lassen“, ist die Devise. Im Fernsehen spricht Innenminister Bernard Cazeneuve seinen Landsleute Mut zu und ruft zu nationaler Einheit auf. Vor einer Amtsstube werden Trikolore und europäisches Sternenbanner eingeholt. Von heute bis einschließlich Dienstag soll Staatstrauer herrschen. Für heute Abend ist ein Gedenkgottesdienst in der Kathedrale Notre Dame geplant, Montagmittag folgt eine landesweite Schweigeminute. Schulen, Museen, Schwimmbäder und der Vergnügungspark Disneyland bleiben vorerst geschlossen. Staatschef François Hollande hatte den Ausnahmezustand noch in der Nacht zum Samstag verkündet. Rund 1500 Soldaten patrouillieren jetzt durch die Straßen der Hauptstadt. Wie das ganze Land stand auch der Präsident unter Schock, als er mit belegter Stimme versicherte, dass er die Grenzen dichtmachen und keine weiteren Anschläge zulassen werde. „Wir wissen, wer diese Verbrecher, wer diese Terroristen sind“, sagte Hollande auch. An die Öffentlichkeit gedrungen sind zunächst freilich nur Bruchstücke dieses Wissens. Identifiziert ist bis Samstagabend erst einer der acht Terroristen. Es handelt sich um einen der vier Täter, die das „Bataclan“ überfallen haben. Die Fingerabdrücke das Mannes weisen ihn als Franzosen aus, der dem Inlandsgeheimdienst als Islamist bekannt war, aber nicht als gefährlich galt. Nicht in allen Fällen ist es gelungen, Fingerabdrücke der Täter zu sichern. Die Körper der meisten Selbstmordattentäter waren nach der Explosion ihrer Sprengstoffgürtel so verstümmelt, dass sich die Gerichtsmediziner mit Gewebeentnahmen begnügen mussten. Sie sollen als DNA-Proben ausgewertet werden. Weitgehend rekonstruiert haben Frankreichs Fahnder immerhin, was sich am späten Freitagabend an den sechs Schauplätzen des Terrors zugetragen hat. Um 21.15 Uhr schießen Männer in Autos mit Sturmgewehren auf die Terrassen der Bar „Le Carillon“ in der Rue Alibert und des Restaurants „Le Petit Cambodge“, praktisch gegenüber, in der Rue Bichat. Sie töten mindestens 14 Menschen. Wenige Minuten später hören die Zuschauer des Freundschaftsspiels Frankreich-Deutschland im Stadion in Saint-Denis mitte der ersten Halbzeit erstmals Explosionsdonner. Knallkörper, Feuerwerk? Niemand steht auf. Doch der Donner rührt von einem Selbstmordattentäter her, der sich vor dem Eingang in die Luft gesprengt hat. Zehn Minuten später folgt vor dem Stadion die nächste Explosion. Wieder hat ein Selbstmordattentäter die Sprengstoffladung an seinem Gürtel gezündet. Auch dies löst keine Panik aus. Weitgehend unbemerkt von den Zuschauern schleusen Sicherheitskräfte Staatschef Hollande aus dem Stadion. Erst die dritte Explosion um 21.53 Uhr löst Unruhe aus. Ein Teil der Zuschauer hat über die sozialen Netzwerke von Schießereien und Explosionen erfahren. Die Polizei hat das Stadion jetzt abgeriegelt, die Menschen stehen unsicher herum. Vor dem „Bataclan“ hallen derweil Schüsse über die Straße. Vier Männer stürmen mit Maschinenpistolen in den Konzertsaal. „Allahu akhbar“, soll einer der Terroristen gebrüllt haben, Allah ist groß. Die Mitglieder der Rockband „Eagles of Death Metal“ suchen hinter ihren Instrumenten Deckung, bringen sich hinter der Bühne in Sicherheit. Ein paar Zuschauer flüchten in einen Seitenraum. Sie halten den Atem an, verfolgen durch einen Türspalt das Geschehen. Die Angreifer feuern im Parkett auf alles, was sich bewegt. Vor ihnen knieende Menschen werden durch Kopfschuss hingerichtet. Die Menschen auf den Emporen und die in den Seitenraum Geflüchteten haben mehr Glück. „Sie haben wie Kaninchen niedergemäht, was ihnen vor die Flinte kam“, erzählt Rockfan Julien Pearce später fassungslos. Nicht weit vom „Bataclan“ fallen in benachbarten Straßen vor Bars und Bistros schon wieder Schüsse: Fünf Tote in der Nähe eines McDonald’s in der Rue du Faubourg-du-Temple, 19 Tote auf einer Café-Terrasse in der Rue de Charonne. Der mutmaßliche Täter sprengt sich dort anschließend selbst in die Luft. Kurz nach Mitternacht stürmt ein Sondereinsatzkommando der Polizei das „Bataclan“. Am Boden kauernde Konzertbesucher springen auf, wähnen sich gerettet. Die Terroristen feuern auf sie. Als die Elitepolizisten Richtung Bühne vordringen, sprengen sich drei Täter in die Luft. Der vierte stirbt im Feuer der Sicherheitskräfte. 82 Konzertbesucher überleben den Abend nicht. Die Kameras, sie halten auf all diese Schreckensorte drauf, den ganzen Abend, die ganze Nacht. Doch an diesem Freitag, Ausgehzeit in Paris, ist jedes Restaurant, jede Bar ein Schreckensort. Régis und seine Freunde zum Beispiel schlürfen in einer Bar im 10. Arrondissement einen Cocktail, sie wollen später noch zum Nachtclub „La Java“ in der Rue du Faubourg-du-Temple, derselben Straße, in der wenig später fünf Menschen niedergemäht werden. Doch diese Pläne interessieren bald niemanden mehr. Über Handys verbreitet sich in der Bar schon gegen 21.30 Uhr blitzschnell die Nachricht von Schüssen und von Toten. Einige verlassen sofort die Bar. Doch auf der Straße sieht man Menschen, die zur nächsten Metro rennen. Passanten laufen von der Straße in die Bar, suchen Schutz. Der Barmann nimmt alle auf, verrammelt dann Türen und Fenster mit seinen Metallrolläden. Die unfreiwillige Bargesellschaft bleibt beisammen bis 1 Uhr in der Nacht. Handys werden gecheckt, es gibt Gerüchte, im angesagten Viertel „Les Halles“ habe man auch geschossen. Das stellt sich später als falsch heraus. Nachts um 1 Uhr stehen Régis und seine Freunde vor einer verschlossenen Metrostation. Sie rufen Taxis herbei – wie all die anderen, die gerade aus Cafés und Hauseingängen schleichen. Am Samstag verbreitet sich über Twitter die Kunde von neuerlichen Schusswechseln, diesmal im Vorort Bagnolet. Auch diese erweist sich als falsch. In Frankreich herrscht auch im Seelischen Ausnahmezustand. Die Nerven liegen bloß. Alles scheint möglich, vor allem das Schlimmste.

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