Rheinpfalz Das falsche Signal

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Radfahrer müssten eigentlich belohnt werden, sagt eine schwedische Studie: Jeder Autokilometer verursacht volkswirtschaftliche Kosten von 15 Cent. Jeder auf dem Rad zurückgelegte Kilometer bringt der Gesellschaft einen Gewinn von 16 Cent. foto: imago

Um die Innenstädte vor dem Verkehrskollaps zu bewahren, müssten viel mehr Menschen aufs Rad umsteigen. Warum passiert das nicht?

Stau, Feinstaub, Unfälle – das Auto kostet viel Geld, und zwar die Gesellschaft deutlich mehr als den einzelnen Fahrer. Seit zwei Jahren ist sogar bekannt, wie viel: Jeder Autokilometer verursacht volkswirtschaftliche Kosten von 15 Cent. Jeder auf dem Rad zurückgelegte Kilometer hingegen bringt der Gesellschaft einen Gewinn von 16 Cent. Das haben die Wissenschaftler Stefan Gössling und Andy Choi von der schwedischen Universität Lund errechnet.

Kurzfristiges Denken zugunsten von Autobahnen

In die Kalkulation flossen gesparte Ausgaben wie Gesundheitskosten ein, die Radfahrer senken, weil sie sich regelmäßig bewegen; außerdem die Schäden durch den Klimawandel, die Schadstoffbelastung, den Straßenbau und so weiter. „Normalerweise rechnen Kommunen ganz anders, beispielsweise: Was nutzt es, wenn ich einen Kilometer Autobahn baue“, sagt Gössling. Dieses kurzfristige Denken falle häufig zugunsten des Autobahnkilometers aus. „Niemand hatte bis dato direkt verglichen – aber erst durch den Vergleich sieht man den wahren Nutzen des Radfahrens.“ Radler müssten eigentlich belohnt werden angesichts des Verkehrschaos allerorten. Aber das werden sie nicht, im Gegenteil: In vielen deutschen Städten mangelt es an vernünftigen Radwegen, an Stellplätzen und am Verständnis der Autofahrer. Wie unsere Mobilität in Zukunft konkret aussehen könnte, da sind sich auch die Forscher uneins. Sicher ist: Vor allem in Großstädten legen Menschen Wege mit dem Auto zurück, die sich mit dem Fahrrad schneller, einfacher und billiger bewältigen lassen.

Anteil des Rads an allen Wegen wächst nicht

Gemessen wird das zunächst einmal an der Anzahl der Wege: Ein Deutscher legt im Schnitt am Tag 3,6 Strecken zurück, beispielsweise die zur Arbeit. Über 16 Prozent dieser Wege sind nach Erkenntnis des Dresdner Verkehrswissenschaftlers Martin Randelhoff kürzer als drei Kilometer. „Da ist man mit dem Fahrrad schneller“, meint der Experte. Die Parkplatzsuche könne man sich sparen, den Stau und den Fußmarsch vom Parkplatz zum Ziel. Zwar tun einzelne Städte wie Berlin, München, Tübingen oder Münster viel in Sachen Rad. Aber so Randelhoff: „Der Anteil des Rads an allen Wegen in Deutschland wächst nicht.“ Das hat seine Gründe. In erster Linie fehlt es an sicheren, baulichen Lösungen. Heute verlaufen Radwege oft auf dem Gehweg, zwischen Straße und Fußgängern, zwischen Verkehr und parkenden Autos. Das führt dazu, dass Radfahrer an Kreuzungen häufig übersehen werden. Deren Gegenstrategie: „Wer diese Radwege ignoriert und sichtbar auf der Straße fährt, lebt sicherer“, sagt Randelhoff.

Paradox: Regeln zu ignorieren, erhöht die eigene Sicherheit

„Neongelbe Kleidung, Tempo 25 Kilometer pro Stunde, schneller aggressiver Fahrstil, männlich, 35, auf dem Weg zur Arbeit – das sind die, die sowieso radfahren.“ Für das Überleben ist das offenbar unerlässlich, denn Studien hätten gezeigt, dass Radfahrer mit einem gewissen Aggressionspotenzial sicherer in der Stadt unterwegs sind. Randelhoff: „Wer gewisse Regeln ignoriert, erhöht die eigene Sicherheit.“ Eine paradoxe Situation. Im Moment jedenfalls traut sich die 78-Jährige oder die Familie mit kleinen Kindern eventuell nicht mitten in den Verkehr. „Wir brauchen eine Infrastruktur von acht bis 80“, fordert der Verkehrsforscher, „die immer sicher ist, die Fehler verzeiht und die attraktiv ist.“ So hätten geschützte Fahrradstraßen in New York und Portland das Radaufkommen unglaublich gesteigert: breite Radwege entlang der Hauptverkehrsachsen, architektonisch vom Verkehr getrennt und ausschließlich für Radfahrer.

Pendler bringen die Autos in die Zentren

Nur: In New York mit seinen drei- bis vierspurigen Straßen ist es ein Leichtes, eine ganze Fahrbahn fürs Rad abzutrennen. In deutschen Großstädten geht es meist enger zu. Doch auch hier gebe es Luft, wie Untersuchungen belegen. „Die Kapazität einer Straße sinkt nicht zwangsläufig, wenn man zwei Spuren zu einer zusammenlegt“, erklärt Randelhoff. Ein Versuch in Karlsruhe habe gezeigt, dass Autofahrer selbst zur Hauptverkehrszeit nur zehn bis zwölf Sekunden länger brauchten – kürzer als eine Rotphase. Es gibt ein weiteres Problem: Um sinnvoll planen zu können, muss man die Zukunft kennen. „Wir wissen nicht, wie sich die Bevölkerungsverteilung entwickelt“, gibt Randelhoff zu bedenken. Manches spreche dafür, dass es die Menschen wieder hinauszieht aus den Städten. Verschärft oder vereinfacht das die Verkehrssituation im Zentrum? „Die Verkehrswahl auf dem Land ist das Problem in der Stadt“, sagt Randelhoff. Die Pendler bringen die Autos in die Zentren. Außerdem: Wie verändert autonomes Fahren die Stadt der Zukunft? Auch davon hängt vieles ab. Einerseits stehen selbstfahrende Autos ebenfalls im Stau. Andererseits könnte es sein, dass die Menschen die Wartezeit dann nicht als vergeudet ansehen, weil sie lesen oder arbeiten können – und so der Verkehr erst recht steigt. Randelhoff: „Das kann man im Moment nicht absehen.“ Bern hat so etwas Ähnliches erlebt: Plötzlich platzten am Morgen die Busse und Bahnen aus allen Nähten. Der Grund: Viele Schulkinder hatten auf einmal Smartphones und fuhren lieber zur Schule anstatt zu laufen oder zu radeln, um auf den Geräten spielen und tratschen zu können.

Junge Leute sind flexibel, was Verkehrsmittel angeht

Im Moment wächst der Radverkehr in Deutschland sehr, sehr langsam. Martin Kagerbauer vom Karlsruher Institut für Technologie wertet das seit vielen Jahren aus. 3000 Teilnehmer führen für ihn jedes Jahr eine Woche lang Tagebuch über ihre Wege. Lag die Radlerquote im Jahr 2000 noch bei im Schnitt 10 Prozent, ist sie inzwischen auf 13 Prozent geklettert. „Gut ist, dass die jungen Leute sehr flexibel sind: Sie nutzen je nach Situation verschiedene Verkehrsmittel“, sagt Kagerbauer. Mit so einer Einstellung holt man aus der vorhandenen Infrastruktur das Optimum heraus. Welches Optimum sich erreichen lässt, hängt letztlich auch von der Verkehrspolitik in den Kommunen ab: Wer die Stadt zu sehr an den Bedürfnissen der Autofahrer ausrichtet, der muss sich nicht wundern, wenn die Radfahrerzahl stagniert und die Schadstoffbelastung im Zentrum hoch bleibt. In den Köpfen der meisten Experten sei das längst angekommen, bestätigt Marius Gantert vom Institut für Landschaftspflege und Ökologie der Universität Stuttgart. „Aber Stadtentwicklung ist ein träger Prozess.“ In Berlin würden derzeit die letzten Lücken der Stadtautobahn geschlossen – ein Relikt der 1960er Jahre. „Durch die Bank weg sind sich Stadtplaner einig, dass das falsch war, wie Städte damals geplant wurden“, bekräftigt Gantert.

Kopenhagen: Immer weniger Parkplätze - immer mehr Radwege

Die Verdrängung von Fußgängern und Rädern in Unterführungen und auf Brücken, die Schneisen, die mehrspurige Streifen in die Zentren schlagen – all das würde man heute anders machen. Städte wie Kopenhagen hätten das bereits in den 1970er Jahren erkannt. Seither fährt die dänische Hauptstadt das Parkangebot jährlich um 3 Prozent zurück und schafft Platz für den Radverkehr. Der KIT-Forscher Kagerbauer führt die steigenden Radfahrerzahlen in Karlsruhe zum Teil ebenfalls auf die Parkplatzverknappung zurück. Denn darin sind sich die meisten Experten einig: Wer das Radfahren attraktiv machen will, muss das Autofahren unattraktiv machen. In Stuttgart hört sich das an wie ein schönes Märchen. Markus Gantert betreibt derzeit mit seinem Kollegen Eric Puttrowait ein Reallabor: eine vom Land finanzierte Forschungsreihe an sieben Standorten, in der Wissenschaftler mit Aktivisten zusammenarbeiten. Die Forscher beobachten in diesem Fall nicht nur. Gantert: „Es geht um die Veranschaulichung von Alternativen.“ Doch gleich einer der ersten Versuche endete ernüchternd: Die Unileute hatten nicht mit so viel Widerstand gerechnet, als sie elf über die ganze Stadt verteilte Parkplätze für drei Monate in kleine Parks verwandelten – um zu zeigen, wie man mit wenig Aufwand die Lebensqualität erhöhen kann. Vermutlich haben die Wissenschaftler in Stuttgart einen besonders schweren Stand. Die Kommune sei „in der Tat alles andere als eine Fahrradstadt“, sagt Gantert. Aber man kann hier viel lernen. Das Problem sei der fehlende Ausbau: Radwege etwa, die nur wenige 100 Meter laufen und plötzlich mitten auf der Straße enden. Wer sich hier trotzdem auf die Straße wagt, ist meist der männliche, aggressive Typ auf dem Weg zur Arbeit. Dabei genüge ein Blick nach Kopenhagen oder Amsterdam. „Es ist nicht so abwegig, dass unsere Städte auch so sein könnten. Radwege motivieren die Menschen radzufahren – nicht nur die Unerschrockenen“, meint Markus Gantert.

Eine Frage des Mobilitätsbewusstseins

Doch das allein reicht nicht. Neben der Infrastruktur müsse vor allem an der Überzeugung der Städter gearbeitet werden: „Es geht um die Frage des Mobilitätsbewusstseins“, sagt Gantert. Wie man das verändern kann, ist eine der Fragen, die das Reallabor beantworten soll. Eins der Projekte, das von den Stuttgarter Wissenschaftlern begleitet wurde: der Bürgerrikscha-Verein – Jüngere fahren Ältere zu Terminen oder unternehmen mit ihnen Ausflüge in die Natur. Das sei sehr kommunikativ gewesen, erzählt Gantert, das hätten alle Dabeigewesenen betont: „Im Auto ist man abgeschottet von den anderen, Radfahren ist gemeinschaftsfördernd.“ Die Beteiligten schwärmten von der Entschleunigung, vom neuen Gefühl für die Umwelt. „Sogar Autofahrer haben bereitwillig gebremst und das Projekt gutgeheißen“, erinnert sich Gantert. Während der direkte ökologische Nutzen gering gewesen sei, weil nur wenige Autokilometer ersetzt wurden, sei das, was in den Köpfen passiert ist, umso höher zu veranschlagen. Ganterts Kollege Puttrowait: „Überzeugungsarbeit funktioniert nicht über rationale Argumente, es muss eher um Geschichten gehen, um ein Lebensgefühl.“

Zehn bis 15 Prozent mehr Autoverkehr, und alles bricht zusammen

Das kann man auch umkehren, also Menschen dazu bringen, aus schlechten Erfahrungen zu lernen. Stefan Gössling von der Universität Lund überlegt, einmal einen Autotag auszurufen. Würden dann alle gleichzeitig fahren, müsste noch dem letzten Auspuffjünger dämmern, dass es so nicht weitergeht und mehr Räder auf den Straßen auch in ihrem Interesse sind. Denn, erklärt Gössling: „Zehn bis 15 Prozent mehr Autoverkehr bringt eine Großstadt zum Erliegen.“ Seine Studie jedenfalls zu den gesellschaftlichen Kosten des Autofahrens hat zumindest in Skandinavien viele Verantwortliche überzeugt: Immer mehr Kommunen argumentieren in diese Richtung, wenn sie die Fahrradwege ausbauen. „Es ist eine Frage der Kommunikation“, sagt Lund: Man muss viel stärker betonen, was Radfahren bringt.“

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