Sport Kugelstoßerin Nadine Kleinert und die „Medaillenflut“

Wie im Paradies„Ich habe mein kleines Peloponnes wiedergefunden, hier in Thüringen am Stausee“, sagt Nadine Kleinert. Im echten,
Wie im Paradies»Ich habe mein kleines Peloponnes wiedergefunden, hier in Thüringen am Stausee«, sagt Nadine Kleinert. Im echten, dem griechischen Peloponnes jubelte sie 2004 über Olympia-Bronze, das später zu Silber wurde.Vier Olympische Spiele (von 2000 bis 2012) erlebte sie bei acht Weltmeisterschaften (von 1997 bis 2011) stand sie im Ring. Foto: dpa

Eine der erfolgreichsten deutschen Leichtathletinnen soll sich bei der bevorstehenden WM in Doha nachträglich eine Medaille abholen. Mal wieder. Aber die 43-Jährige kann nicht – sie muss Pakete austragen.

Von Ralf Jarkowski

Vom nahen Kyffhäusergebirge grüßt Kaiser Barbarossa, über dem idyllischen Stausee Kelbra lacht die Sonne, im Vogelparadies proben hunderte Kraniche für den Formationsflug gen Süden. Nadine Kleinert genießt dieses Panorama. Sie hat heut frei, und zum See kommt die ehemalige Weltklasse-Kugelstoßerin immer wieder gern. „Ich habe mein kleines Peloponnes wiedergefunden, hier in Thüringen am Stausee“, sagt die gebürtige Magdeburgerin und deutet auf die weitläufigen Wiesenflächen und das kleine Amphitheater mittendrin.

Peloponnes? Das muss sie erklären. Rückblende: Im antiken Olympia erlebt sie am 18. August 2004 einen der schönsten Erfolge und emotionalsten Momente ihrer Karriere, die immerhin ein Vierteljahrhundert währt: Beide Kugelstoßfinals gehen an der Geburtsstätte Olympias, auf der Halbinsel Peloponnes im Süden Griechenlands, über die Bühne.

Bronze mit der Post

„Da kriege ich heute noch Gänsehaut“, gesteht die 43-Jährige. „Wer hat schon mal 160-Kilo-Mannsbilder gesehen, die geheult haben, als sie durch diesen Torbogen gegangen sind?“ Über Bronze jubelte die Leichtathletin damals ausgelassen, und schon wenige Tage später weiß Kleinert, dass sie sogar Silber hat. Wegen Dopings verliert die Russin Irina Korschanenko Gold, Kleinert rückt auf und bekommt ein halbes Jahr später die Silberplakette. Rund ein dutzendmal wird Kleinert nach Dopingfällen ihrer Konkurrentinnen bis heute hochgestuft; zum ersten Mal 1999.

Hammerwerferin Betty Heidler bekommt im Vorjahr nachträglich Olympia- Silber von den Sommerspielen 2012 in London; elf Jahre nach den Spielen 2008 in Peking wird auch der früheren Speerwurf-Weltmeisterin Christina Obergföll Silber nachgereicht. „Die olympische Medaille habe ich damals beim Neujahrsempfang des NOK erhalten. Da durfte ich extra noch auf eigene Kosten nach Frankfurt reisen“, grummelt Kleinert. Bronze von der Hallen-EM 2004 in Budapest hat sie „irgendwann mal mit der Post bekommen“. Ihr Trainer Klaus Schneider hat dann „noch 'ne Flasche Sekt gekauft und sie mir beim Training überreicht“. Sie führt eine Liste, „auf der das Gröbste draufsteht. Aber ich hab' aufgehört zu zählen.“ Sie schreibt an den ehemaligen Sportminister Thomas de Maizière. „Das war kein Hilfeschrei, ich wollte ihn nur mal auf das Problem aufmerksam machen“, berichtet Kleinert.

Mit dem Rollator zur Ehrung?

Gerade habe sie erfahren, dass sie wieder mal eine Plakette nachträglich bekommt: Silber statt Bronze von der WM 2007 in Osaka. „Zwölf Jahre später!“ Der Weltverband IAAF hat sie zur WM nach Doha eingeladen, die am Freitag startet. „Das ist eine Geste, ja, aber 'tschuldigung: Die arbeitende Bevölkerung hat keine Zeit.“

Ergebnislisten sind für sie heute nur noch „schwarze Tinte auf weißem Papier. Und Papier ist geduldig.“ Und außerdem: „Ich kann mich über nachgereichte Ehrungen überhaupt nicht mehr freuen. Aus Spaß habe ich schon mal gesagt, obwohl ich es wirklich ernst meine: Die letzte Medaille werde ich wahrscheinlich mit dem Rollator abholen.“ Oder sich den Brief mit den Dokumenten selbst in den Postkasten einwerfen. „Gut möglich“, sagt Nadine Kleinert, „wenn ich diese Tour habe.“

Glücklich mit Babsi

Vor drei Jahren zog die dreimalige WM-Zweite in ein Dorf im Kyffhäuserkreis. Der Liebe wegen. „Ich habe jetzt eine kleine Familie. Ich bin gesund, habe ein Dach überm Kopf, und ich habe ein glückliches Leben – das ist mein Luxus“, versichert sie. „Die Leichtathletik, mein Partner und Babsi sind mir wichtig im Leben“, erzählt Kleinert und schmunzelt. Babsi? Ihre Hündin „ist 'ne Diva“.

Meist macht ihr die Arbeit Freude, die Kollegen haben sie gut aufgenommen. Der Job macht ihr Spaß, selbst zur Weihnachtszeit, wenn die 14-malige deutsche Meisterin wieder in Rekordform sein muss. „Knapp über 200 Pakete in acht Stunden“ fährt sie dann aus. Früher stieß sie die Kugel sechsmal möglichst weit – 24 Kilo Eisen in einer Stunde. „Ich bin ja an schwere Gewichte gewöhnt. Und ein Paket wiegt bis zu 31,5 Kilo.“ Fast achtmal so viel wie die Kugel.

Vier Olympische Spiele (von 2000 bis 2012) erlebte Nadine Kleinert, bei acht Weltmeisterschaften (von 1997 bis 2011) stand sie im Ring. Ihre Bestleistung packte sie bei der Heim-WM 2009 in Berlin aus – für 20,20 Meter gab’s in Spreeathen Silber. Erst am 15. September 2013 hörte Nadine Kleinert mit dem Leistungssport auf – mit 37 Jahren. Und noch einmal wird es Silber, bei der Militär-Europameisterschaft. Im westfälischen Warendorf ging an jenem Sonntag eine der längsten, erfolgreichsten und vor allem beständigsten Karrieren der deutschen Leichtathletik zu Ende.“

Die Crème de la Crème

Diesen Satz kann Clemens Prokop im Rückblick nur dick unterstreichen. Der langjährige DLV-Präsident kennt und schätzt Nadine Kleinert. „Sie war immer authentisch und ehrlich. Nicht stromlinienförmig, nicht Social-Media-weichgespült. Sie hat ihr Ding gemacht – und das konsequent“, sagt der Jurist Prokop.

„Sie hat sich auf jeden Fall zu den Großen der Leichtathletik hochgearbeitet. Zur Crème de la Crème“, bekräftigt Prokop. „EM-Gold 2012 in Helsinki war ein versöhnliches Ende. Aber der Ruhm von gestern brachte ihr wirtschaftlich nicht das, was sie durch ihre Leistung eigentlich verdient hätte.“

Christina Schwanitz, seit Jahren die deutsche Nummer eins im Ring, erinnert sich an einen der „emotionalsten Momente“, den sie im Sport erlebt hat. „Als Nadine bei Olympia 2012 in London das Finale knapp verpasste, Mensch, das war so hart für sie. Da habe ich sie in den Arm genommen und getröstet“, erzählt die frühere Welt- und Europameisterin. „Es hat mich damals sehr bewegt, dass ich als jüngere Athletin gesehen habe, wie diese Powerfrau ihren Frust rausheult“, erzählt die zehn Jahre jüngere Schwanitz, die großen Respekt vor „Kleini“ hat. „Sie war sehr charakterstark, ist oft angeeckt, hat aber mit Leistung überzeugt“, meint die 33-Jährige.

Leichtathletik bald tot?

Kleinert liebt ihren Sport noch heute, gerade deshalb beäugt sie ihn wohl besonders kritisch. „Wenn es so weitergeht, dann ist die Leichtathletik in zehn Jahren tot – und den DLV gibt's nicht mehr“, sagt Kleinert. „Es ist nicht mehr meine Leichtathletik!“ Die Zuschauer „gehen doch lieber zu einem Fußballspiel der F-Jugend“.

Leistungssport, Schule, Studium, Arbeit – dies sei heute für viele Athleten eine Schicksalsfrage. „Und auf dem freien Markt heute mit über 30 noch einmal einen Beruf lernen? Dann ist man 34, 35, bis man fertig ist“, erklärt Kleinert. „Wer nimmt einen dann noch? Es ist wirklich so hart. Ich hab's am eigenen Leib erfahren.“

Nach ihrer Karriere hatte die dreimalige WM-Zweite zunächst als Trainerin gearbeitet. Bei ihrem Ex-Verein SC Magdeburg sei sie „als Übungsleiter abgestempelt“ worden, für 200 Euro netto im Monat. „Wer will's denn heute noch für'n Appel und 'n Ei machen? Sich von 8 Uhr früh bis abends 20 Uhr in die Halle stellen und ein paar aufmüpfige Teenager trainieren, die auf nichts Bock haben?“ Da müsse sich endlich was ändern. dpa

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