Politik Vom Eise befreit …

An diesen Anblick muss man sich noch gewöhnen: Auf der Regierungsbank sitzen wieder echte Minister, nicht nur geschäftsführende. Neue Gesichter sind dabei. Ganz links die Bildungsministerin, deren Namen man noch nachschlagen muss: Anja Karliczek. Mittendrin Horst Seehofer, den man noch in der Münchner Staatskanzlei wähnte, aber nicht im Bundestag. Links neben der Kanzlerin, auf dem Stuhl des Vizekanzlers, lauscht nun nicht mehr Sigmar Gabriel, sondern Olaf Scholz. Ein Gesicht wie die Sphinx. Der Hanseat schweigt mit gefrorenem Lächeln. Das Plenum summt und brummt, rund 700 Abgeordnete sind da, reden, klatschen, kommen und gehen. Kaum einer, der nicht froh ist, dass es nun endlich wieder eine Debatte gibt, die diesen Namen verdient. Es ist die Aussprache über die Regierungserklärung der Kanzlerin. Angela Merkel beginnt ihre vierte Amtszeit nach einer ersten Woche voller Rempeleien in den eigenen Reihen. CSU-Innenminister Horst Seehofer und CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn hatten es nicht abwarten können, sich mit Debatten über Islam und Armut zu profilieren. Debatten, die in dieser Art bisher vor allem von der AfD geführt wurden. Nun also muss die Kanzlerin ihr Arbeitsprogramm ausbreiten und so etwas wie Aufbruch signalisieren. Schließlich steht die große Koalition nicht in einem guten Ruf, gilt sie doch als das personalisierte „Weiter-so“ und somit als Gegenteil von Erneuerung. Man kann nicht behaupten, dass das politische Berlin der Rede Merkels mit großen Erwartungen entgegenfieberte. Doch die Kanzlerin kann noch überraschen. Merkel vermag ihr politisches Handeln nicht nur verständlich zu erklären, sondern auch so etwas wie eine Vision aufzuzeigen. Es geht ihr um den Zusammenhalt der Gesellschaft, den sie in Gefahr sieht – obwohl es dem Land wirtschaftlich so blendend geht wie kaum einem anderen in der Welt. Eigentlich, so lautet Merkels unausgesprochene Botschaft, müssten die Deutschen doch glücklich und zufrieden sein, sich gegenseitig helfen und tolerant sein. Weil dem offensichtlich nicht so ist, sucht Merkel nach Gründen. Sie kommt auf die Flüchtlingskrise und damit auch auf ihr persönliches Trauma zu sprechen, das sie natürlich nicht so nennt. Sie räumt ein, die Gefährlichkeit der Flüchtlingskrise für die deutsche Gesellschaft zu spät erkannt zu haben. „Auch ich habe zu lange zu halbherzig reagiert und einfach gehofft, dass uns diese Probleme nicht direkt betreffen werden“, sagt sie. Diese Hoffnung sei nicht nur falsch, sondern auch „naiv“ gewesen. Nicht erkannt habe sie auch, wie sehr ein „banaler Satz“ wie „Wir schaffen das!“ die Gesellschaft polarisiert konnte. Merkel wirkt an dieser Stelle wie die Physikerin, die sie einmal war: Analyse der Fehler, Darstellung der Situation, dann Schlussfolgerungen. Sie listet auf, was seither gemacht wurde und künftig zu tun sei. Es ist eine ganzer Katalog von Maßnahmen, vom EU-Türkei-Abkommen bis hin zur Sicherung der europäischen Außengrenzen und zur Integration all jener Asylbewerber, die in Deutschland bleiben dürfen. Es ist eine Rechtfertigungsrede, die Merkel hält, aber auch eine Rede mit einem Versprechen: „So etwas wie 2015 darf nicht wieder passieren.“ Es dürfe nicht der Eindruck entstehen, dass Fremden geholfen werde, während sich die Politik nicht um die eigenen Bürger kümmere. Immer wieder kehrt Merkel zurück zum Anfang ihrer Rede, wo es um den Zusammenhalt der Gesellschaft ging. Merkel wendet sich gegen Äußerungen, die das Potenzial haben, die Gesellschaft zu spalten. Mit den Worten „Der Islam ist ein Teil Deutschlands geworden“, rügt sie die Haltung von CSU-Chef Seehofer, der das Gegenteil behauptet hatte. Merkels Begründung: Die Bundesregierung habe schließlich die Verantwortung, dass der Zusammenhalt in Deutschland größer und nicht kleiner werde. Mit deutlichen Worten wendet sie sich auch gegen andere: Aufs Schärfste kritisiert sie die Syrien-Offensive der Türkei, die Verletzung völkerrechtlicher Grenzen durch Russland, die geplanten Strafzölle der USA, die laxe Haltung der deutschen Autoindustrie zum Diesel-Problem und die Daten-Politik von Facebook. Die anschließende Debatte wird von der größten Oppositionsfraktion eröffnet, der AfD. Fraktionschef Alexander Gauland verzichtet auf Tabubrüche und schrille Wortwahl. Er konzentriert sich auf das Thema Flüchtlingskrise und hält Merkel vor, sie behaupte zwar, die Spaltung in der Gesellschaft überwinden zu wollen. Dies mache sie aber gar nicht. So gehe die „Masseneinwanderung ungebremst weiter“. Gauland äußert zudem Verständnis dafür, dass andere EU-Staaten nicht zur Aufnahme von Flüchtlingen bereit seien. „Es gibt keine Pflicht zu Buntheit und Vielfalt und dafür, den eigenen Staatsraum mit anderen zu teilen.“ FDP-Fraktionschef Christian Lindner flüchtet sich in Ironie, als er auf die geplatzten Sondierungsgespräche von Union, FDP und Grünen anspielt („eine traumatisierende Phase meines Lebens“), bleibt aber milde im Urteil über die große Koalition. Für die geplante Grundgesetzänderung zur Abschaffung des Kooperationsverbotes von Bund und Kommunen in der Bildungsfinanzierung sagt er seine Unterstützung zu. Weniger gnädig ist Anton Hofreiter von den Grünen. Seine Empfehlung für Merkel: „Morgen wird Herr Seehofer entlassen, und übermorgen ist Herr Spahn fällig.“ Deren Entlassung könne den von Merkel gewünschten Zusammenhalt der Gesellschaft stärken, sagt er bissig. Auch Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch nimmt sich der beiden Minister an. Dem CSU-Vorsitzenden wirft Bartsch „Verbalradikalismus“ vor. Rassismus, Ausgrenzung und Menschenhass gehörten nicht zu Deutschland. „Das ist wirklich eine reine Notkoalition, die sich hier zusammentut.“ Es ist SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles, die das Regierungsbündnis aus naheliegenden Gründen verteidigt. Diese Koalition habe den Anspruch, sich der Alltagssorgen der Menschen anzunehmen. Das gelte etwa für die Vorhaben, extreme Mieterhöhungen nach Modernisierungen zu stoppen und junge Familien mit dem Baukindergeld beim Erwerb von Wohneigentum zu unterstützen. „Mehr Debatte wagen“, hat CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt gestern gefordert. Der Anfang dürfte ihm gefallen haben.

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