Politik Jetzt wird verhandelt, „bis es quietscht“

Am Ende sieht es wie ein Unentschieden aus. Als die mehr als 600 Stimmberechtigten ihre roten Stimmkarten nach oben strecken, kann niemand auf Anhieb erkennen, für welche Position sich die Mehrheit entschieden hat. Sitzungsleiter Heiko Maas bleibt nichts anderes übrig, als erneut abstimmen und die Stimmkarten auszählen zu lassen. In diesen wenigen Minuten ist es still im Konferenzzentrum von Bonn wie den ganzen Tag nicht. Dutzende von Reden wurden gehalten, laut, leidenschaftlich, sachlich, tiefgründig und vor allem: fair. Nun liegt Spannung in der Luft, kaum jemand wagt zu sprechen. Mehrere Minuten ist das so, bis die Zählkommission zu einem Ergebnis kommt. Welche Seite ist in der Mehrheit? Es ist partout nicht auszumachen. Dann das Ergebnis: 362 stimmen für weitere Verhandlungen mit der Union, 279 sind dagegen. Einige klatschen, einige seufzen laut. Ein Parteitag von höchster Brisanz ist zu Ende. Das traditionelle Abschlusslied „Wann wir schreiten Seit’ an Seit’“ klingt wie Ironie. Denn in Wahrheit haben die Genossen gestritten – wenn auch Seit’ an Seit’. Gemeinsam werden sie nun Richtung große Koalition marschieren. So jedenfalls wünscht es Parteichef Martin Schulz in seiner Abschlussrede. Doch vor allem die Parteijugend wird ihre Gefolgschaft wenn nicht verweigern, doch zumindest überdenken. Die Jusos sind die Verlierer dieses Parteitages. Sie kämpften mit zahlreichen Wortbeiträgen gegen ein „Weiter so“ mit Merkel & Co.. Während Schulz in seiner Rede mühsam versuchte, die Glanzpunkte des Sondierungspapiers herauszustellen, konterte Juso-Chef Kevin Kühnert in einer rhetorisch brillanten Rede mit Grundsätzlichem. Kühnert kommt es nicht auf ein paar weitere „Spiegelstriche“ an – sprich: Nachverhandlungen mit der Union. Er ist grundsätzlich gegen eine weitere Zusammenarbeit mit CDU und CSU, weil die Gemeinsamkeiten „seit langem aufgebraucht“ seien. Freundlich im Ton, aber hart in der Sache lobte Kühnert die Arbeit der SPD-Sondierer, zog aber andere Schlussfolgerungen als Schulz. Nicht die große Koalition mache die SPD klein, sondern es sei die Partei selbst, die sich klein mache. „Wir machen uns klein mit der Art, wie wir mit uns umspringen lassen. Wir denken den Kompromiss immer schon vorweg. Wir beschneiden uns selbst“, sagte Kühnert. Die Partei benötige Erneuerung und Vertrauensbeweise. In Anspielung an ein Zitat von CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt, wonach die SPD-Kritiker einen „Zwergenaufstand“ gegen das Sondierungsergebnis probten, sagte Kühnert: Es sei gut, heute einmal ein Zwerg zu sein, „um künftig wieder ein Riese sein zu können“. Der Juso-Chef erhielt lautstarken Beifall seiner Anhänger. Er hat in wenigen Worten Schulz die Schau gestohlen. Kühnert hielt der Partei einen Spiegel vor, er erinnerte an die schmerzhafte Erfahrung, dass die SPD seit Jahren einen Kompromiss nach dem anderen eingeht, um an der Macht zu bleiben. Für Kühnert ist das der Grund, warum die SPD immer weniger Wähler hat. Am Ende hat seine Argumentation nicht die Mehrheit der Delegierten überzeugt. Das lag möglicherweise auch am leidenschaftlichen Eintreten dreier prominenter rheinland-pfälzischer SPD-Frauen für weitere GroKo-Verhandlungen: Malu Dreyer, Andrea Nahles und Katarina Barley. Dreyer eröffnete den Parteitag mit einem Plädoyer für die große Koalition. Obwohl sie noch vor wenigen Wochen für die Tolerierung einer Union-Minderheitsregierung eingetreten war, zeigte sie sich nun im Lichte der Sondierungen anderer Meinung. Zum einen, weil Kanzlerin Angela Merkel (CDU) deutlich gemacht habe, keine solche Regierung führen zu wollen. Außerdem, so Dreyer, seien in den Sondierungen viele sozialdemokratische Herzensanliegen festgeschrieben worden. Dreyer nannte die Wiederherstellung der Parität bei den Krankenkassenbeiträgen sowie Verbesserungen bei der Rente und für Langzeitarbeitslose. Besonders betonte Dreyer den Einstieg in die gebührenfreie Bildung. „Wenn wir über Bildungsgerechtigkeit sprechen, muss die Gebührenfreiheit kommen“, rief Dreyer den Delegierten zu. Viel Applaus erhielt die Mainzer Ministerpräsidentin für ihre Kritik an Aussagen aus der CSU: „Ich lasse mir doch die Butter nicht vom Brot nehmen von Menschen wie Herrn Dobrindt.“ Die SPD diskutiere mit Anstand und Stil und könne glänzen, wenn sie sich nicht so verhalte, „wie es Teile der zweiten Reihe der CDU und CSU machen“. Andrea Nahles drehte am Rednerpult noch mehr auf. Mit lauter Stimme und ausladender Geste versprach sie den Skeptikern in den eigenen Reihen: „Wir werden verhandeln bis es quietscht auf der anderen Seite!“ Es würden „weitere gute Sachen herausgeholt“ werden. Die Fraktionschefin sagte, sie habe keine Angst vor Neuwahlen. Sie habe aber Angst vor den Fragen der Bürger, wenn die SPD in neue Wahlen mit demselben Programm gehe, sie aber gemeinsam mit der Union davon hätte das meiste umsetzen können. „Die zeigen uns den Vogel. Die fragen, warum wir das nicht mit der Union umgesetzt haben.“ Katarina Barley trat ans Mikrofon, als im Grunde alle Argumente schon ausgetauscht waren. Sie lobte ausdrücklich das bisher in den Sondierungen Erreichte und stellte die rhetorische Frage, deren Stil durchaus zur Debatte passte: „Ist das nix? Ist das ein Fliegenschiss? Hallo?“ Eine Überraschung war der Redebeitrag des früheren SPD-Parteivorsitzenden Rudolf Scharping. Erstmals seit vielen Jahren hat er wieder auf einem SPD-Parteitag das Wort ergriffen. Der Rheinland-Pfälzer stärkte Schulz zwar den Rücken. Dieser sei von den Mitgliedern zu unterstützen, dass er „seinen Job als Parteichef“ glaubwürdig machen könne. „Die Anderen können dann unsere Politik in der Regierung umsetzen“, ergänzte Scharping und gab damit durch die Blume zu verstehen, dass Schulz kein Regierungsamt annehmen sollte. Dies war nur einer von mehreren Nadelstichen, die der SPD-Chef im Laufe der Debatte einstecken musste. Sein „wahnwitziger Kurs“ nach der Bundestagswahl wurde nicht nur von Juso-Chef Kühnert kritisiert. Gemeint war damit die Verkündung, die SPD wolle in die Opposition, um diese Position später wieder zu räumen, als längst klar war, dass die SPD für eine große Koalition gebraucht werde. Wie distanziert die SPD-Mitglieder auf ihren Chef schauen, wurde nach dessen Rede deutlich: Der Applaus war freundlich, aber nicht berauschend. Schulz hatte gut argumentiert, doch ließ er Leidenschaft vermissen. Unglaubwürdig erschien sein Versprechen, in den weiteren Verhandlungen noch bessere Ergebnisse für die SPD zu erzielen, etwa den Abbau der Zwei-Klassen-Medizin. „Wir werden diese durchsetzen“, sagte Schulz. Viele schüttelten an dieser Stelle den Kopf. Angesichts der klaren Ansagen aus dem Unionslager erscheint dieses Unterfangen nahezu aussichtslos.

x