Ich sag’s mal so Wenn die Abiturprüfung sich nach 30 Jahren im Traum meldet

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Ich muss meine Abiprüfungen wiederholen. Und wahrscheinlich werde ich durchfallen, denn nach 30 Jahren ohne Schulbank weiß ich nichts mehr. Textanalyse von drei Kapiteln unterschiedlicher Werke des Naturalismus in Deutsch. Diskussion über die Bedeutung der Montanunion der europäischen Gemeinschaft für die Entwicklung der Kohle und Stahlindustrie in Deutschland im Fach Erdkunde. In Französisch eine Textanalyse eines Aktes aus dem Stück „Die Nashörner“ von Eugène Ionesco. Oder sowas ähnliches. Auf jeden Fall nicht zu bewältigen. Also nicht in echt jetzt. Denn wahrscheinlich hat noch nie ein Mensch nach 30 Jahren sein Abitur wiederholen müssen. Aber ich träume das regelmäßig. Alle paar Wochen träume ich davon, dass ich – ausgestattet mit einer Thermoskanne Kaffee, drei belegten Brötchen und meinem Mäppchen – in der Schulturnhalle an einem kleinen Pult sitze und versuche, die Aufgaben zu bewältigen. Ich kann nach dem Aufwachen nie sagen, ob ich durchgefallen bin oder nicht. So weit geht der Traum nicht. Was ich aber zuverlässig jedesmal erinnere, ist die Panik beim Feststellen der Tatsache, dass ich das Abi nochmal machen muss.

Jetzt gibt es ja im Leben mehrere Situationen, bei denen man arg unter Stress steht: Führerscheinprüfung, Uniklausuren, Staatsexamen, Bewerbungsgespräche. Noch nie hab ich davon geträumt, obwohl ich durch die Führerscheinprüfung einmal durchgefallen bin. Eigentlich müsste ich davon schlechte Träume haben: Ich war unfassbar aufgeregt, hatte einen berühmt-berüchtigten Prüfer im Auto sitzen und hab alles Mögliche falsch gemacht.

Abi-Träume gehen weiter

Vor kurzem hatten wir Klassentreffen, 30 Jahre Abi. Teil des Programmes war ein Treffen an der alten Schule, in der die Abiturarbeiten ausgegeben wurden. Ich wollte da hingehen, auch in der Erwartung, dass das mit dem Abiturtraum danach vielleicht ein Ende hätte. Wenn man seine Abiklausuren in der Hand hält, steht da ja schwarz auf weiß, dass man bestanden hat. Leider war ich krank. Also muss ich wohl weiter vom Abi träumen.

Es gibt auch Menschen, die sich mit diesem Phänomen wissenschaftlich beschäftigen. Seltsamerweise gibt es eine repräsentative Umfrage der Gesellschaft für Konsumforschung dazu. Wobei man ja berechtigterweise fragen kann, was Konsum mit schlechten Träumen zu tun hat, außer es gäbe ein Produkt zu kaufen, mit dem man etwas gegen Alpträume machen könnte. Auf jeden Fall kommt die Umfrage zu dem Schluss, dass 12,5 Prozent der Deutschen davon träumen, bei Prüfungen zu versagen. Ja, diese Konsumforscher vermuten sogar, dass es wahrscheinlich mehr als die 12,5 Prozent sind – weil ja die meisten Leute sich nach dem Aufwachen nicht mehr daran erinnern, was sie geträumt haben.

Die Macht der Klarträume

Dazu gibt es nun wiederum Forscher, die sagen, man könne das trainieren, sich an Träume zu erinnern, indem man sofort nach dem Aufwachen aufschreibt, was man geträumt hat. Ja, es gibt Forscher, die sagen, man könne sogar beeinflussen, was man träumt. Übungssache. Nennt man luzides Träumen oder Klartraum. Wenn ich das beherrschen würde, könnte ich mir wahrscheinlich im Traum die Antworten verraten oder mir einen großen Spickzettel zustecken. Aber ich hab keine Lust, jeden Morgen schon gleich nach dem Aufwachen was aufzuschreiben. Noch vor dem ersten Kaffee. Das geht nun wirklich nicht. So schlimm ist es dann doch nicht mit dem Abi.

Ich vermute ja, dass der Abitraum irgendwie verwandt ist mit dem so genannten Imposter-Syndrom. Da denkt man, man hat zwar seinen Job, aber in Wahrheit könne man das, was man da jeden Tag tut, überhaupt nicht. Nennt man auch Hochstapler-Syndrom. Man hat ständig Angst, dass irgendjemand dahinterkommt, dass man seine Arbeit gar nicht kann und nur so tut als ob. Angst vor dem Erwischtwerden. Ist es nicht arg, dass man sogar als erwachsener Mensch innerlich immer noch diese kindliche Angst verspürt, nicht zu genügen? An den Anforderungen der Gesellschaft zu scheitern?

Wie wichtig ist die Montanunion?

Ich jedenfalls habe mittlerweile festgestellt, dass ich durchaus schon während des Träumens irgendwie ahne, dass es hier nicht mit rechten Dingen zugeht und wahrscheinlich doch nur ein Traum ist. Wie wichtig wäre es auch für meinen Alltag, zu wissen was es mit der Montanunion auf sich hatte? Richtig großartig wäre es natürlich, ich könnte in meinem Traum an der Tür zur Schulturnhalle umdrehen, der Lehreraufsicht meine drei Brötchen schenken und sagen: „Das hab ich doch alles schon hinter mir. Auch wenn Sie mir nicht glauben, aber ich weiß, dass ich bestanden habe. Das machen wir jetzt nicht alles nochmal. Guten Tag auch!“

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