Speyer Spannende Wendungen

Zeitgleich mit seinem Antritt als Bischof von Speyer im Jahr 1911 begann Michael von Faulhaber mit täglichen Einträgen in sein Tagebuch. Die 32 Bände mit über 4000 Seiten werden nun von Forschern transkribiert, kritisch editiert, kommentiert und ab Oktober als Online-Version der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt.

Michael von Faulhaber, der am 5. März 1869 im unterfränkischen Heidenfeld geboren wurde und am 12. Juni 1952 in München starb, gilt als herausragender Theologe, engagierter Streiter für kirchliche Interessen und kritischer Beobachter. Er war Gesprächs- und Verhandlungspartner von so unterschiedlichen Politikern wie Adolf Hitler, Franklin D. Roosevelt und Konrad Adenauer. Er erlebte das Kaiserreich, die Weimarer Republik, den Nationalsozialismus und die Anfänge der Bundesrepublik Deutschland. Jeden Tag schrieb er während dieser Zeit auf, was er getan und wen er getroffen hatte, worüber man sprach und was er fühlte. Seine detaillierten Aufzeichnungen von 1911 bis 1952 sind von enormem historischem Wert, obwohl oder gerade weil sie eigentlich nie für die Öffentlichkeit bestimmt waren: Sie sind ein authentischer Blick hinter die Kulissen von offiziellen Korrespondenzen und Verlautbarungen, voller Informationen zu politischem, sozialem und religiösem Leben sowie persönlichen Befindlichkeiten. „Nach dem Tod von Faulhabers letztem Sekretär, Prälat Johannes Waxenberger, fand man sie vor fünf Jahren in dessen Nachlass, und dann passierte etwas Großartiges“, berichtet Hubert Wolf, Direktor des Seminars für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. „Das Erzbischöfliche Archiv in München erkannte, welch zentrale Quelle die Tagebücher mit ihren detaillierten Einträgen sind, und der heutige Erzbischof Reinhard Kardinal Marx überließ sie im April 2012 der Forschung.“ Seit Oktober 2013 arbeitet Wolf zusammen mit dem Historiker und Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin, Andreas Wirsching, in einer Kooperation mit dem Erzbischöflichen Archiv München daran, eine kritische Online-Edition der Tagebücher von Michael von Faulhaber zu erstellen, um sie für jedermann zugänglich zu machen. Finanziell unterstützt wird das auf zwölf Jahre angelegte und äußerst aufwändige Projekt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Die Einträge der über 15.000 Tage samt diversen Beiblättern müssen zusammengefügt, übertragen und kommentiert werden, damit man sie überhaupt versteht. „Das Hauptproblem ist, dass Faulhaber die Tagebücher in der Kurzschrift ,Gabelsberger’ schrieb“, erläutert Wolf. Deshalb mussten die Mitarbeiter diesen Vorläufer der Stenografie zuerst wieder mühsam erlernen, um die Tagebücher zu transkribieren. Die Wissenschaftler erhoffen sich aufschlussreiche Antworten und neue Erkenntnisse zur Geschichte, zu der Kirche, dem Verhältnis von Religion und Politik, vor allem der Kirche zum Nationalsozialismus, und natürlich zu Faulhaber, der 1917 zum Erzbischof von München und Freising ernannt wurde. „Faulhaber war stets umstritten, weil er 1937 auf Wunsch von Papst Pius XI. zwar die Enzyklika ,Mit brennender Sorge’ gegen den Nationalsozialismus verfasste, sich aber nicht in aller Klarheit für die verfolgten Juden einsetzte“, so Wolf, der schon jetzt in den Tagebüchern spannende Wendungen im Leben von Faulhaber ausmacht. „Erst wenn wir in einigen Jahren fertig sind, werden wir ein vollkommenes Bild von ihm besitzen.“ Da diese Endversion schätzungsweise 30.000 Textseiten umfassen wird, entschied sich die Forschergruppe für eine schrittweise Veröffentlichung im Internet. „Außerdem sind wir der Meinung, wenn etwas mit öffentlichen Geldern bezahlt wird, muss es auch kostenfrei zugänglich gemacht werden.“ Obwohl am 28. Oktober 2015 unter www.faulhaber-edition.de zuerst die Umbruchsituationen in den Jahren 1918, 1919 und 1933 als Original, Eins-zu-Eins-Transkription und Leseversion mit Erklärungen veröffentlicht werden, spricht Wolf Faulhabers Jahren als Bischof von Speyer eine zentrale Rolle zu. „Dort liegt der Ursprung von vielem, und wir sind gespannt, wie er die Umstellung vom Professor in Straßburg zum Bischof erlebte, wie er die Zeit als Feldprobst im Ersten Weltkrieg interpretierte und wie sehr ihn die Speyerer Jahre für sein zukünftiges Leben prägten.“ Wann die entsprechenden Tagebücher aus Faulhabers Zeit in Speyer zu lesen sind, kann die Forschungsgruppe noch nicht sagen. Und auch, welche Erkenntnisse genau sich daraus ableiten lassen, weiß niemand. „Wir haben selbst keine Ahnung, was wir finden werden – es kann Positives oder Negatives sein, aber auch das macht die Arbeit so spannend.“

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