Speyer Das Meer entscheidet über Leben und Tod

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WALDSEE. „Das Schiff rollte wild hin und her, und alle hatten Angst vor dem Sterben.“ Immer wieder beten, immer wieder das ganze Leben Revue passieren lassen, immer wieder hoffen, immer wieder bangen. So beschreibt der syrische Flüchtling Amer Al-Atassi, der heute in Waldsee untergebracht ist, die schlimmste Etappe seines Weges nach Deutschland. Neun Tage Todesangst – das war seine gefährliche Reise auf einem Seelenverkäufer über das Mittelmeer, von der türkischen Hafenstadt Mersin bis zur süditalienischen Insel Sizilien.

Für die von einem Schlepper vermittelte Passage zahlte Amer Al-Atassi ein kleines Vermögen. Seine Mutter hatte dafür ein wertvolles goldenes Armband verkauft. Schon vor der Überfahrt habe er jeden Tag ans Sterben gedacht und seine Gedanken darüber in seinem Tagebuch festgehalten, erinnert sich der heute 26-Jährige. Sechs Wochen habe er gebraucht, um eine halbwegs vertrauenswürdige Mittelsperson für die Schiffspassage zu finden. Das Geld habe er in einem Büro in der Stadt gezahlt – und dafür im Gegenzug nur einen fragwürdigen Fresszettel als Bestätigung erhalten. Dass ihn kein arabisches Land als Flüchtling aufnahm, stieß dem Araber bitter auf. Und in der Türkei, wo er seine Mutter alleine zurücklassen musste, habe er nicht bleiben können, sagt er. „Es gibt sehr viele Syrer in Mersin – es ist günstiger als Istanbul, aber es ist trotzdem sehr teuer für uns Syrer und es gibt kaum Jobs.“ Einige Zeit habe er in einer Fabrik für Fotokameras gearbeitet – zwölf Stunden Maloche für umgerechnet neun Dollar am Tag. „Die Türken zogen im Bus zur Arbeit immer über die Syrer her – sie mögen uns nicht.“ In Mersin habe er keine Zukunft für sich gesehen, nur Stillstand. „Das Leben hörte dort auf.“ Der Landweg über Griechenland, Mazedonien, Serbien und Ungarn, den so viele seiner Landsleute wählen, sei für ihn keine Option gewesen. „Ich war alleine und hätte so nicht im Wald campieren können.“ Denn er hatte – wie beispielsweise von Amnesty International bestätigt – durchaus berechtigte Angst vor Repressalien, Gewalt und Gefängnis. Aber vor allem auch davor, in Ungarn Fingerabdrücke genommen zu bekommen und dann aus Deutschland, seinem Ziel, wieder dorthin zurückgeschickt zu werden. Alles Dinge, die seinen syrischen Landsleuten nur allzu bekannt sind. So sei ihm nur die Entscheidung geblieben: „Möglicher Tod auf dem Meer oder sicherer Tod ohne Job und Perspektive“, wie er es ausdrückt. Am 13. November 2014 ging die Reise übers Mittelmeer dann tatsächlich los. Im Schutz der Dunkelheit mussten die Flüchtlinge, darunter viele Frauen und Kinder, sich durch steiniges Gelände zu einem wartenden Boot vorkämpfen, das sie zum außerhalb der Zwölfmeilenzone wartenden großen Schiff und damit jenseits der türkischen Hoheitsgewässer transportieren sollte. Viele hätten sich dabei verletzt, manche sogar das Bein gebrochen, erzählt Amer Al-Atassi. Im Gepäck habe er nichts gehabt außer einer kleinen Tasche mit Datteln und einer Wassernotration. „Es war nicht erlaubt, mehr mitzunehmen, keine Klamotten, nichts“, erzählt er. Immerhin sei es ihm aber gelungen, sein Handy verbotenerweise mit an Bord zu schmuggeln, weswegen er jetzt Fotos von der als „Todesreise“ bekannten Überfahrt zeigen kann. Zwei Stunden saß Al-Atassi dann zusammen mit etwa 100 Flüchtlingen in dem kleinen Transferboot – und wurde sofort seekrank. Die Übelkeit sollte den jungen Syrer in den folgenden neun Tagen nicht mehr verlassen. 650 Menschen seien auf dem großen Schiff gewesen, ausschließlich Landsleute. Sie hätten sich fast nur unter Deck aufgehalten. „Alle 650 schliefen hier in einem Raum auf dem kalten brüchigen Metallboden, unter dem sich die Exkremente sammelten, wie Kühe, wie Schafe, wie Tiere.“ Das Gebet sei die einzige Zuflucht gewesen. „Wir beteten zu Allah, uns zu beschützen.“ Eine einzige Toilette habe es für alle gegeben. „Ich habe neun Tage lang nur Wasser getrunken und Datteln gegessen, hatte kein einziges Mal Stuhlgang.“ Am Anfang habe er den ganzen Tag Hunger gehabt. „Dann hörte die Verdauung auf zu arbeiten.“ Von dem kalten Metall, auf dem er ohne Decke und zusätzliche Kleidung liegen musste, habe er ständig gefroren und starke Rückenschmerzen bekommen, sich auch durch die dauernde Übelkeit sehr krank gefühlt. Immer wieder habe er angesichts des hohen Seegangs als Nichtschwimmer verzweifelt nach einer Schwimmweste an Bord gesucht. Doch er fand keine. „Das Meer hat die Macht und entscheidet über Tod oder Leben. Es gab nicht das geringste bisschen Sicherheit.“ Vor der italienischen Küste angekommen, habe der Kapitän die Küstenwache zu Hilfe gerufen. „Sie kamen zuerst mit dem Flugzeug und dann mit einem großen Militärschiff“, erinnert sich der junge Syrer. Über eine Strickleiter mussten die Flüchtlinge an Bord klettern. „In Catania angekommen, hatte ich ein ganz gelbes Gesicht – ein Nierenproblem“, erinnert sich Al-Atassi. Dennoch habe er sich bei der Untersuchung durch das Rote Kreuz geweigert, ins Krankenhaus zu gehen. „Ich wollte weiter nach Deutschland.“ Mit dem Zug reiste Al-Atassi über Mailand und Verona nach München. Von Saarbrücken kam er schließlich über das Auffanglager in Trier nach Waldsee. Es sei eine Reise ins Vertrauen zu Gott gewesen, sagt er rückblickend. „Ich überließ es Allah, ob er mich nach Deutschland senden wollte – ich hatte keine Entscheidung über Tod oder Leben.“ „Alle Syrer in Deutschland haben Erfahrungen wie diese“, unterstreicht der junge Flüchtling. „Wir kommen nicht für Geld.“ Das ist ihm wichtig zu betonen. „Ich wollte in meiner Heimat nicht kämpfen und nicht sterben“, sagt Amer Al-Atassi. Deshalb sei er sehr dankbar für die Aufnahme in Deutschland und wolle nun schnell die Sprache lernen, um zu arbeiten und Steuern in dem Land zu zahlen, das er als so menschlich und mitfühlend empfindet. Im September beginnt sein Deutschkurs an der Volkshochschule Speyer. Monatelang suchte Amer Al-Atassi eine eigene kleine Wohnung irgendwo in der Vorderpfalz, um die Flüchtlingsunterkunft in Waldsee verlassen zu können und weiter in Deutschland Fuß zu fassen. Nach unzähligen Absagen nach dem Motto „Flüchtlinge nehmen wir nicht“, hatte er jetzt in Schifferstadt Glück.

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