Neustadt Von Schund spricht heute niemand mehr

Herr Huber, erinnern Sie sich noch an Ihre allererste Begegnung mit dem Comic-Genre?

Oh, das muss ein Sammelband gewesen sein. Irgendwelche Abenteuer in Afrika mit weißen Gorillas. Bleibenderen Eindruck haben bei mir aber erst die Superhelden im Fernsehen hinterlassen. Bei RTL gab es da einmal eine Serie mit Spiderman und anderen Marvel-Figuren. Spiderman war dann auch mein erster richtiger Comic, gezeichnet von Mark Bagley. Das war prägend für mich.

Der Boom, den die Gattung heute erlebt, hat viel damit zu tun, dass sich Comics heute verstärkt an ein erwachsenes Publikum richten. Was sind Autoren- und Zeichner-Namen, die man hier unbedingt beachten sollte?

Da muss man in der Geschichte ein bisschen zurückgehen. Will Eisner ist da zu nennen, der ja auch den Begriff Graphic Novel geprägt hat. Er hatte anspruchsvolle Geschichten und einen sehr prägnanten Zeichenstil, der viele nachfolgende Zeichner beeinflusst hat. Art Spiegelman und „Maus“ sind natürlich wichtig, ein Comic, der den Holocaust thematisiert und zeigte, dass im Comic im Grunde jedes Thema aufgegriffen werden kann. Ein klassischer Superhelden-Zeichner ist Jack Kirby, der bei fast jedem Marvel-Comic-Helden irgendwie beteiligt war. Er ist für mich der Gottvater des Action-Zeichen-Stils. Die meisten heutigen Zeichner kommen nicht an ihn heran. In Europa sind Hergé mit „Tim und Struppi“, André Franquin mit „Spirou“ und „Gaston“, Goscinny mit „Asterix“, „Lucky Luke“ und „Isnogud“ und natürlich Moebius mit „Arzach“ zu nennen. Und in Japan ist Osamu Tezuka ein Name, den man kennen sollte. Er ist im Grunde der Erfinder des Mangas.

Mit Ausnahme von Spiegelman sind dieses Männer aber alle schon tot. Wie sieht es in der Gegenwart aus?

Da gibt es den Briten Alan Moore, für mich der größte Comic-Autor der Gegenwart. Von ihm stammen unter anderem die Serien „V wie Vendetta“ und „Die Liga der außerordentlichen Gentlemen“. In Frankreich sind Lewis Trondheim und Joann Sfar wichtige Namen. Ein interessanter Mann ist auch der Nordire Garth Ennis, der vor allem durch die Serie „Preacher“ bekannt wurde und später bei Marvel die Serie „Punisher“ übernahm. Das ist ein sehr schwarzer Humor und ziemlich gewalttätig. Frank Miller muss man natürlich kennen, ein sehr kreativer Mann mit ganz eigenem Stil. „Ronin“, „Sin City“ und „300“, die alle verfilmt wurden, stammen von ihm. Wegen seiner starken Frauencharaktere sehr beliebt ist Joss Whedon, der von Haus aus eigentlich Drehbuchautor ist – er ist der Erfinder der TV-Serien „Buffy“ und „Firefly“. In Deutschland ist Reinhard Kleist vielleicht der interessanteste Name. Er macht klassische, sehr ernsthafte Graphic Novels wie die Biographien „Cash“ und „Castro“ sowie „Der Boxer“, die Geschichte eines Juden, der das KZ als Boxer überlebt. So, da habe ich zwar bestimmt ein Dutzend gute Leute vergessen, aber das ist immerhin mal ein Überblick.

Sie haben den Begriff Graphic Novel als Synonym für komplexere Geschichten in Comic-Form verwendet, aber eigentlich würde doch fast jeder Comic-Band mit durchgängiger Geschichte diese Bezeichnung verdienen, oder?

Das ist im Grunde ein Marketing-Begriff, der besonders in Deutschland sehr gut ankommt, weil er die alte Unterscheidung zwischen E- und U-Kultur fortschreibt. Ich halte da nicht viel davon.

Wenn man sich die Namen anschaut, die Sie hier und in Ihrer Top-Ten genannt haben, hat man den Eindruck, dass die USA in Sachen Comic immer noch das Maß aller Dinge sind ...

Mein persönlicher Fokus ist eben stärker auf die USA gerichtet. Dort gibt es einige große Verlage mit entsprechend großem Output. Deshalb reagieren die amerikanischen Comics auch schneller auf gesellschaftliche Veränderungen, sind besser im Zeitgeschehen verankert. Vor allem aber beim Marketing hat Amerika die Nase vorne. In Europa ist der Markt im Vergleich viel unübersichtlicher. Aber auch hier gibt es interessante Entwicklungen.

Welche?

Ein allgemeiner Trend geht dahin, das Publikum stärker zu diversifizieren, also mehr auf spezielle Zielgruppen zuzuschneiden. Frauen zum Beispiel sind so eine Gruppe, die derzeit in vielen Ländern verstärkt in den Blick genommen wird. Der französische Film „Blau ist eine warme Farbe“ um eine lesbische Liebe etwa, der derzeit in den Kinos läuft, hat auch einen Comic als Vorlage.

Und was braucht ein guter Frauen-Comic, um Erfolg zu haben?

Vor allem gute weibliche Charakteres und eine gute Handlung. Er muss ganz einfach intelligenter gemacht sein.

Kein Kompliment für die Herren der Schöpfung. Welche Rolle spielen heute noch Klassiker wie die aus dem Marvel-Kosmos?

Die bilden wie „Asterix“ oder „Tim und Struppi“ das Fundament und bauen Berührungsängste ab. Für viele sind sie der Einstieg ins Comic-Genre. Das muss gar nicht über den Comic selbst sein, auch die Verfilmungen spielen eine große Rolle. Da sind wir dann wieder beim Thema Marketing.

Es gibt mittlerweile ja auch ausgesprochen literarische Comics, selbst Marcel Prousts „Recherche“ zum Beispiel wurde schon adaptiert. Gibt es für so etwas in einer Stadt wie Neustadt einen Markt?

Ich denke schon. So etwas spricht ja das Bildungsbürgertum an, und das ist in Neustadt gut vertreten.

Was ist für Sie persönlich eigentlich am wichtigsten am Comic? Die Zeichnung? Die Handlung? Die Sprache?

Mir ist die Handlung extrem wichtig. Wenn die Geschichte blöd ist, kann auch der beste Zeichner nichts ausrichten. Aber es muss eben alles harmonieren, die Zeichnungen, das Layout, die Handlungsabfolge.

Der Weg des Comics zur neunten Kunst, wie man in Frankreich sagt, war lang und steinig. Sehen Sie sich heute manchmal noch mit Vorurteilen konfrontiert?

Ja, das gibt es schon noch, aber da muss man drüber stehen. Eine häufigere Reaktion ist der Nostalgie-Faktor, denn viele Ältere fühlen sich durch die Comics an ihre Jugend erinnert. Für diese Zielgruppe gibt es dann hochwertige Neuauflagen und Nachdrucke.

x