Neustadt „Da war Amerika noch nicht entdeckt“

Schon im 19. Jahrhundert war in der heutigen Hauptstraße 96 eine Bäckerei untergebracht. Die Epoche des Hauses schätzten Experten bislang auf den Barock-Stil im späten 18. Jahrhundert. Der städtische Denkmalpfleger Stefan Ulrich hat eine dendrochronologische Untersuchung des Holzes veranlasst. Damit können Experten selbst aus kleinsten Proben die Anzahl der Jahresringe herleiten. Das nüchtern mitgeteilte Ergebnis: Baujahr 1418/1419. Das ist nach Meinung Ulrichs eine „kleine Sensation“. Denn damit zählt die Hauptstraße 96 zu den acht ältesten Häusern der Stadt, die noch erhalten sind. Als ältestes Gebäude gilt die Rathausstraße 6 („Haus des Weines“) von 1277. Denkmalpfleger Ulrich ist begeistert von der Nachricht. „Man muss sich das vorstellen, 1418, da war Amerika noch nicht entdeckt“, sagt er. Weil Holz damals immer saftfrisch verzimmert worden sei, könne man davon ausgehen, dass das Fachwerk aus Eichenholz im Sommer 1419 errichtet wurde. Das zweite Obergeschoss sei zu einem unbekannten Zeitpunkt komplett erneuert worden. Die relativ schmale Fassade lege die Vermutung nahe, dass das Gebäude im Mittelalter mit dem Giebel zur Hauptstraße stand und bei einem späteren Umbau „gedreht“ wurde, so Ulrich. Holzproben vom zweiten Obergeschoss, diesmal von einer Kiefer, stammen aus dem Winter 1719/1720. Nach 1810 ist dann wohl zur statischen Sicherung das hölzerne Erdgeschoss durch Sandstein erneuert worden. „Die Versteinerung der Erdgeschosse von Fachwerkhäusern war damals verbreitet“, erklärt Ulrich. Ende des 19. Jahrhunderts sei vor die Fassade eine Schieferverkleidung gehängt worden. „Neustadt war damals wohlhabend. Das war aus Sicht der Denkmalschützer nicht immer gut. Armut war früher der beste Denkmalschutz, weil nichts kaputt gemacht wurde“, erklärt er. Die „Bausünde“ wurde 1950 wieder korrigiert. Für die Eigentümerfamilie Graf bedeutet die Nachricht, dass das Gebäude nicht nur im Zusammenhang mit der Denkmalschutzone „Altstadt“ geschützt wird, sondern künftig auch als Einzeldenkmal. Ingeborg und Joachim Graf nehmen die Aufgabe gerne an. „Wir sind stolz, diese Verantwortung übernehmen zu dürfen und haben erst im Vorjahr das Fachwerk mit historischer Ochsenblut-Farbe gestrichen“, sagt Joachim Graf, der mit seinem Sohn Michael in der Backstube hinter dem Verkaufsraum steht. Die oberen Etagen bewohnt die Familie. Die Grafs haben das Gebäude 1987 von der Bäckerei Schlee übernommen und ihren Betrieb Schritt für Schritt von Haßloch nach Neustadt verlagert. Die Familie Schlee führte die Bäckerei seit 1920. In den Jahrzehnten davor begründete die Bäckerei Jacob Faust die Tradition an dem Standort in der Hauptstraße.

x