Ludwigshafen „Wir pendeln zwischen Extremen“

91-77963785.jpg
Herr Eilenberger, ist die Initiative zu der Diskussionsreihe über die offene Gesellschaft von Ihnen ausgegangen?

Nein, die Initiative ging von dem Soziologen Harald Welzer und seinem Institut Futurzwei aus. Er hat früh erkannt, dass die Flüchtlingskrise viele Chancen, aber auch Spannungen, Sorgen und Ängste erzeugen wird. Während der Frankfurter Buchmesse hat er dann Paten gesucht und mich für Mannheim gewonnen. Warum gerade Mannheim? Ich komme aus Karlsruhe, kenne daher die Region und habe Bekannte am Nationaltheater. Außerdem ist Mannheim eine Stadt, die einen großen Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund hat. Es wäre ein Fehler, wenn sich die Debatten nur auf große Städte konzentrieren würden. Ich werde die Diskussion im Nationaltheater moderieren, habe aber in der vergangenen Woche auch selbst in Aachen als Diskussionsteilnehmer auf dem Podium gesessen. Welches Ziel verfolgen diese Diskussionsveranstaltungen? Sie wollen der Bevölkerung ein Forum für Fragen bieten. Es geht weniger um die Teilnehmer auf dem Podium als um das Publikum, das zu den Veranstaltungen kommt. Es sollen Diskussionen nach Art der Townhall-Gespräche in den USA sein, bei denen ein offenes, ehrliches und erwachsenes Gespräch im Vordergrund steht. Es geht darum, sowohl die Chancen als auch die Sorgen und Ängste, die in der Krise stecken, gemeinsam zu besprechen. Viele Fragen sind schließlich noch offen, und manche noch nicht einmal gestellt. Können Sie ein Beispiel für solche noch nicht gestellten Fragen nennen? Zum Beispiel: Ist das womöglich erst der Anfang einer Jahrzehnte währenden Migrationsbewegung? Und wenn ja, was folgt daraus? Bis Dezember haben wir uns ja in einer Art Flitterwochen befunden. Die problematischen Aspekte der Flüchtlingswelle wurden dabei sehr weit in den Hintergrund gedrängt, gar tabuisiert. Nach den sexuellen Übergriffen zu Silvester in Köln und anderswo wurde dann fast bruchlos zu einer Art Dämonisierung übergegangen. Wir pendeln zwischen Extremen, so fehlt die Klarheit und auch die Ehrlichkeit, die Größe der Aufgabe realistisch einzuschätzen. Wir haben anzuerkennen, dass sich dieses Jahr wieder eine Million Flüchtlinge auf den Weg machen werden – und zwar nicht nach Europa, sondern, wie die Dinge liegen, nach Deutschland. Das birgt die Gefahr, dass Deutschland in einem permanenten Reaktionsmodus verharrt und in dieser zunehmend sichtbaren Überforderung wesentliche Gestaltungschancen verloren gehen. Den Begriff der offenen Gesellschaft hat nach dem Krieg der Philosoph Karl Popper geprägt und gegen totalitäre Diktaturen, vor allem gegen die kommunistischen Regime des Ostblocks, gerichtet. Sehen Sie heute die liberale Gesellschaft gefährdet und die Freiheit bedroht? Die Freiheit ist zu jedem Zeitpunkt und in jeder Gesellschaft gefährdet. Aber in der Tat, wir befinden uns im Augenblick an einem neuralgischen Punkt. Heute ist die Konstellation jedoch eine ganz andere als 1945, als Popper „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ veröffentlicht hat. Popper ging es um einen Realitätsabgleich, darum, dass jede wissenschaftliche Aussage an der Wirklichkeit überprüfbar sein muss. Dann hat er geschichtliche Gesetzmäßigkeiten, wie sie der Marxismus lehrt, zugunsten einer fundamentalen Offenheit der Entwicklung abgelehnt. Beides ist verteidigenswert. Wir sollten für die mögliche Falschheit eigener Überzeugungen offen bleiben und vor allem nicht davon ausgehen, dass etwas notwendig klappt oder eben schiefgeht. Das ist auch in unserer Diskussion wichtig. Was Popper aber damals nicht eigens in den Blick nahm, ist die Bedrohung durch einen religiösen Fundamentalismus. Und auch uns fehlt häufig noch die Sprache dafür. Es besteht die Tendenz, alles letztlich auf ökonomische Ursachen zu reduzieren. Zur Offenheit bei den Diskussionen gehört auch die Ausrichtung vorrangig am Publikum und seinen Fragen? Wir haben drei Gäste eingeladen, die der Diskussion Impulse geben sollen. In Mannheim sind das Mannheims Oberbürgermeister Peter Kurz, Jagoda Marinic, die Leiterin des interkulturellen Zentrums in Heidelberg, und der Grafikdesigner Klaus Staeck, langjähriger Präsident der Akademie der Künste in Berlin. Das Publikum steht im Zentrum und kann Fragen stellen. Ziel ist eine Diskussion unter Menschen, die bereit sind, einander zuzuhören. Niemand hat im Moment Patentrezepte. Wir bewegen uns alle auf schwankendem Grund. Dennoch die Frage: Wie raten Sie persönlich, mit der Flüchtlingskrise umzugehen? Zwei Eingeständnisse scheinen mir zentral. Einmal markiert die Flüchtlingswelle das Ende einer zentralen Lebenslüge einer ganzen Generation. Wir haben nämlich geglaubt, dass wir bei all dem Elend in der Welt, im Nahen Osten, in Afrika, Asien, hier in Zentraleuropa weiterhin in einer Art von mauerlosem Paradiesgarten leben könnten. Wir hegten die verstohlene Hoffnung: Die werden schon nicht kommen. Das hätten wir besser wissen können. Zweitens halte ich die jetzige Situation für vergleichbar der von 1989. Wieder fallen Grenzen, wieder stimmen Millionen Menschen mit den Füßen ab, wieder drohen scheinbar stabile Bündnisse in Monaten zu zerbrechen. Damals der Warschauer Pakt, heute die Europäische Union. Wer im Moment nicht ernsthaft besorgt ist, hat einfach nicht genau genug hingesehen. Noch immer aber fehlt in weiten Teilen der Politik und auch in der Bevölkerung der Mut, überhaupt erst einmal in diesen Abgrund der Fragen zu blicken. In der Januarausgabe des „Philosophie Magazins“ ist ein Beitrag der Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann erschienen mit dem Titel „Hat Deutschland eine besondere historisch bedingte Verantwortung?“ Wie stehen Sie zu dieser Frage? Dieser Aspekt trifft einen Kern des deutschen Selbstverständnisses. Gewiss, als Tätervolk steht Deutschland in einer besonderen Konstellation. Wichtig scheint mir aber allgemein, die Empfangsbereitschaft für Flüchtlinge nicht an begangene nationale Schuld zu koppeln, zumal die jetzige Migration auf koloniale Zusammenhänge verweist, mit denen die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands so gut wie gar nichts zu tun hat. Es gibt natürlich die produktive Hoffnung, dass aus einem Tätervolk nun ein Helfervolk werden kann. Aber ich würde andere Aspekte der deutschen Geschichte und Geisteshaltung in den Vordergrund rücken, allen voran Kants Gedanken vom Menschen als unbedingt zu schützenden „Zweck an sich“ – er bildet nicht zuletzt das geistige Fundament des Asylrechts. Termin Diskussion über „Offene Gesellschaft“ am Donnerstag, 4. Februar, 19 Uhr, in der Lobby Werkhaus des Mannheimer Nationaltheaters .

x