Ludwigshafen „Vor Gott haben wir versagt“

Herr Borggrefe, Sie befassen sich in einem Buchprojekt mit der evangelischen Kirche in Ludwigshafen während der NS-Zeit. Warum ist das heute noch ein heißes Eisen?

Weil bis jetzt noch nicht klar genug darüber gesprochen wurde. Ja, wir als Kirche haben bei diesem Thema unsere Vergangenheit verschwiegen. Warum hat es fast 70 Jahre gedauert, bis die Rolle der evangelischen Kirche in Ludwigshafen während der NS-Zeit aufgearbeitet wird? Nach dem Krieg stand der Wiederaufbau im Vordergrund. Die Ludwigshafener Innenstadt war zu über 80 Prozent zerstört. Und wir hatten das Riesenthema Schuld zu verarbeiten. Das haben wir durch Schweigen getan. Gab es eine Art Schweigespirale? Ja. Ich kann das an meiner Familie festmachen: Mein Vater war Parteigenosse (), und mein Onkel war bei der SS. Als der Krieg zu Ende war, bin ich 15 Jahre alt gewesen. Ich habe viel bewusst mitbekommen. Aber wir haben das Geschehen nicht reflektiert. Mein Vater hatte psychisch nicht die Kraft, darüber zu sprechen. Er war kaputt nach dieser Zeit, mein Onkel noch mehr. Das waren Menschen mit schweren seelischen Schäden. Die haben unter der fremden Besatzungsmacht geschwiegen, gearbeitet und so alles verdrängt. Nach Ihren Recherchen kommen Sie zu dem Schluss, dass starke Kräfte in der evangelischen Kirche der Stadt den Nationalsozialismus wollten und die Einführung der Diktatur bejubelt haben. Wie ist das zu erklären? 1933 haben sehr viele gejubelt. Viele Tausend sind im Gleichschritt marschiert. Unser Volk war gedemütigt, wirtschaftlich schwach und man hatte die Hoffnung, dass mit den Nazis die Zukunft gewonnen werden könnte. Und man hat an Hitler seine Träume von Arbeit, Ordnung und sozialer Gerechtigkeit festgemacht. Die Kirche hat das positiv wahrgenommen. Hitler war für unsere Kirche ein großer Verführer. Das klingt nach Sehnsucht nach einem Erlöser … Um es noch mal an meiner Familie festzumachen: Mein Vater war arbeitsloser Diplomvolkswirt, bekam 1933 Arbeit – wir Kinder hatten dafür gebetet. Es gab nur wenige Pfarrer, die das Regime von Anfang an durchschaut haben – auch in Ludwigshafen. Dabei war die Arbeiterstadt Ludwigshafen doch eher sozialdemokratisch geprägt und keine Nazi-Hochburg. Das stimmt. Aber Sozialdemokraten und Kommunisten waren oft antikirchlich eingestellt. Die Protestanten waren aber eher bürgerlich und fühlten sich zwischen dem antiklerikalen Lager und den Katholiken in die Enge gedrängt. Deswegen haben sich viele Protestanten an den Nationalsozialismus geklammert und wollten sich damit profilieren. Es gab damals ja eine Art evangelische Nazi-Kirche, die sich „Deutsche Christen“ nannte. Wie stark hat das die Pfarrerschaft in der Stadt beeinflusst? 1933 waren bis auf zwei Geistliche alle Pfarrer in der Stadt bei den „Deutschen Christen“, und was fast noch wichtiger ist: die Presbyterien waren gleichgeschaltet. Bei den evangelischen Kirchenwahlen im Mai 1933 gab es Einheitslisten. Bedingung der NSDAP für die Zulassung der Wahlen war, dass die Mehrheit der Kandidaten Nationalsozialisten sind. Die Folge war: Alle Presbyterien hatten eine nationalsozialistische Mehrheit. Die ganze evangelische Kirche der Pfalz war gleichgeschaltet. War die katholische Kirche aufgrund ihrer Struktur weniger anfällig für die NS-Ideologie? Die katholische Kirche hatte in der Zentrumspartei ihre politische Heimat. Außerdem gab es ein starkes katholisches Vereinsleben. Das war nicht so einfach für die NSDAP zu schlucken. Die katholische Kirche war daher widerständig. Das fehlte dem Protestantismus vollkommen. In anderen evangelischen Gemeinden hat sich ab 1934 Widerstand geregt, es gab nach der Barmer Synode die „Bekennende Kirche“ – ein Teil der evangelischen Kirche wehrte sich gegen die Vereinnahmung durch den Nationalsozialismus, trat in Opposition zur NS-Diktatur, und es gab Theologen wie Dietrich Bonhoeffer, die dafür mit dem Leben zahlten. Warum gab es in Ludwigshafen keinen Widerstand? Wir hatten keinen Bonhoeffer in der Pfalz. Und in Ludwigshafen schon gar nicht. Hier galt für viele die Losung: „Ohne Juda, ohne Rom – bauen wir den deutschen Dom“. Das wurde von Parteirednern in Sondergottesdiensten geäußert. Luther wurde als der große Deutsche gefeiert. Hier gab es keinen Widerstand. Wir waren angepasst. Hat nicht der Widerstand der „Bekennenden Kirche“ bis nach Ludwigshafen ausgestrahlt? Nein. Im Gegenteil: Es gab eine Landessynode in Speyer, die das neue System begrüßte und dem „Führer“ Adolf Hitler ihr Vertrauen ausgesprochen hat. Das war sechs Wochen, bevor es das Barmer Bekenntnis gab. Daran waren Protestanten hier weder innerlich noch äußerlich beteiligt. Der Charakter des NS-Regimes hat sich dann immer mehr offenbart. Selbst die Ausschreitungen gegen jüdische Mitbürger und das Abfackeln der Synagoge bei der Pogromnacht 1938 wurden schweigend hingenommen? Es wurde nichts dazu gesagt. Warum nicht? Es gab eine aktive Linie in der evangelischen Theologie, die antijüdisch war und das alte Testament ablehnte. Hier in Ludwigshafen gab es 1937 – also vor dem Pogrom – einen Bekenntnisgottesdienst in der Lutherkirche. Es ging dabei aber darum, dass die Pfälzische Kirche ihre Traditionen nicht aufgeben wollte und sich dagegen wehrte, in eine Reichskirche integriert zu werden. Es ging also mehr um Autonomie und regionale Identität? Ja. Und zu dieser Identität gehörte aber dann auch, dass die Heilige Schrift als Ganzes anerkannt wurde. Man hat das Alte Testament verteidigt – das muss man sagen. Man hat sich dabei nicht an den „Deutschen Christen“ orientiert, die das Alte Testament ablehnten und eine neue „Deutsche Bibel“ einführen wollten. Aber der Pfälzischen Landeskirche ging es in dieser Zeit immer nur um die eigene Identität und nicht um den Schutz der jüdischen Minderheit oder Solidarität mit dem Widerstand gegen das NS-Regime. Und es gab keine Ausnahmen? Es gab den Pfarrer Bergmann in der Innenstadt, der immer in einem Geschäft in der Bahnhofstraße seine Milch bei der Frau eines stadtbekannten Kommunisten kaufte, der in Frankreich untergetaucht war. Und es gab in der Gartenstadt einen Pfarrer, der mit den Nazis nichts am Hut hatte. Aber in der Judenfrage waren alle Pfarrer sehr vorsichtig, da hat man sich lieber nicht geäußert. Die „Arisierung“, also die faktische Enteignung der jüdischen Mitbürger, war kein Thema? Nein. Man hat gesehen, dass Geschäfte in der Stadt den Besitzer gewechselt haben und geschwiegen. Das ist auch nach dem Krieg so geblieben: Es gab viele Geschäfte, die in den 1980er-Jahren ihr 50-jähriges Bestehen gefeiert haben. Die Hintergründe zur Geschäftsgründung wurden verschwiegen. Auch als die Synagoge in der Kaiser-Wilhelm-Straße angezündet wurde, gab es keinen Kommentar? Ich habe nichts gefunden. Kein Wort. Und die Deportationen der Ludwigshafener Juden in das Lager Gurs Anfang der 1940er-Jahre? Es findet sich in den Jahresberichten der Kirche keine Notiz darüber in den Akten. Null. Was sagt uns das über die Kirche: War sie blind, taub und stumm gegenüber den Geschehnissen? Ja. Das ist ein sehr trauriges Kapitel. Neben der Judenverfolgung wurde auch die Euthanasie () nicht thematisiert. Ich bin sehr froh, dass da in 70 Jahren eine andere Kirche entstanden ist, die sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzt und von Schuld spricht. Und die aufmerksam geworden ist, einen Blick für Unrecht hat und für Minderheiten eintritt. Würden Sie sagen, dass die evangelische Kirche in der NS-Zeit gesellschaftlich versagt hat? Heutige Generationen können vielleicht so eine Formulierung gebrauchen. Wir Alten müssen uns sagen: Vor Gott haben wir versagt. Ganz bestimmt. Wir sind als Christen dem Anspruch des Evangeliums nicht gerecht geworden. Die Pfälzische Kirche hat eigentlich eine liberale Tradition, die hat sie damals verraten. Wie hat dieses Schweigen und Versagen die kirchliche Arbeit nach dem Krieg beeinflusst? Es war ein Tabu-Thema. Der Wiederaufbau auch der Kirchengebäude hat alles verdrängt. Es kamen junge neue Pfarrer, die beispielsweise in Frankreich noch während des Kriegs ausgebildet worden waren. Die brachten auch den Schuldgedanken ein. Die alten Kräfte in der Kirche haben sich arrangiert mit den neuen Begebenheiten. Früher hatten sie Kompromisse mit dem NS-Staat gemacht, dann mit den neuen Herrschenden. Was hat Sie zu einem Theologiestudium nach dem Krieg motiviert? Ich habe 1945 als Zusammenbruch wahrgenommen. Ich wusste als 15-Jähriger, dass solche Typen wie Hitler nicht mehr meine Zukunft bestimmen sollten. Ich war zunächst ratlos, was ich nach der Schule machen sollte: Bergmann werden oder Bauer – solche Dinge habe ich zunächst überlegt. 1947 habe ich Anschluss an eine evangelische Gemeinde gefunden, und bei einem Pfingstlager ist bei mir der Groschen gefallen: Mit Jesus als Zukunftsgestalter könnte es klappen. Dann habe ich Theologie studiert und bin 1965 als Pfarrer der Friedenskirche nach Ludwigshafen gekommen. Als Sie 1978 Dekan wurden, mussten Sie sich noch mit den Folgen der NS-Zeit und ehemaligen Nazis in Kirchengremien wie Presbyterien beschäftigen. Welche Probleme gab es? Der zehnte Sonntag nach Trinitatis ist dem Gedenken an die Zerstörung Jerusalems gewidmet. Ich habe da immer versucht, etwas Besonderes zu diesem Tag zu machen. Ich habe damals einen Rabbi eingeladen. In der Friedenskirche war das kein Problem. Als Dekan habe ich das wieder getan – und dann traten einige Presbyter deswegen aus dem Presbyterium aus. Weil ich mit einem Juden Gottesdienst halten wollte. Hätten Sie das für möglich gehalten? Nein. Auch bei der Erinnerungsarbeit an die NS-Zeit war es für mich nicht immer einfach. Es galt, latente Widerstände zu überwinden. Ich musste aktiv werden und sagen: 9. November, da hat hier die Synagoge gebrannt. Da müssen wir hier einen Kranz aufhängen. Und auch als der 50. Jahrestag der Deportation nach Gurs war, habe ich eine Gedenktafel im Schulhof der Maxschule einfordern müssen. Damals musste ich diese Erinnerungsarbeit aktiv ankurbeln – heute ist das Standard. Gott sei Dank. Heute gibt es viele Stolpersteine für die Opfer des NS-Regimes … Das ist aber auch eine Kommerzialisierung der Erinnerungsarbeit. Das stört mich dabei. Denn für jeden Stolperstein muss bezahlt werden. Erinnerungsarbeit ist also keine einfache Sache? Die Judenfrage ist eine Frage, an der wir unsere Geschichtsaufarbeitung sowie unsere Toleranzfähigkeit und Solidarität messen können. Wir können die Gegenwart nur meistern, wenn wir uns aktiv mit der Vergangenheit auseinandersetzen. Sie schreiben gerade ein Buch über die NS-Vergangenheit der evangelischen Kirche. Was hat es damit auf sich? An der Aufarbeitung dieser Zeit in der Pfälzischen Landeskirche wirken über 30 Autoren mit. Wir versuchen, mit 60 oder 70 Biografien von Menschen aus der Nazi-Zeit das Geschehene zu verstehen. Ich fand es sehr spannend, die Geschichte meines Vorgängers als Dekan im Dritten Reich nachzuvollziehen. Wir werden das Buch 2015 vorstellen. Aber ich habe mir vorgenommen, die Ludwigshafener NS-Zeit in einem eigenen Buch zu betrachten, das zu meinem 85. Geburtstag im Dezember erscheinen soll. Es heißt „Im Gleichschritt Marsch.“

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