Ludwigshafen Politik trifft auf Kunst

Immer noch Barbaren? Der weltweite Raubbau an der Natur, der Umgang der Industrienationen mit Lebewesen, zuletzt ruchbar geworden an einem Gerichtsurteil zur Vergasung männlicher, also für den Menschen wertloser Küken, der massenhafte Tod von Flüchtlingen vor der Haustür der Europäischen Union – als Antwort drängt sich ein kleinlautes Ja auf. Vor über 200 Jahren hat sich Friedrich Schiller von der Kunst eine Humanisierung des Menschen versprochen. Er scheint sich geirrt zu haben.

„Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ verfasste Schiller unter dem Eindruck der Terrorherrschaft während der Französischen Revolution, die er anfangs enthusiastisch begrüßt hatte und von der er sich nun mit Grausen abwandte. Zu den diesjährigen Schillertagen am Mannheimer Nationaltheater haben Schauspielintendant Christian Holtzhauer und die Dramaturgin Juliane Hendes Autoren aus dem In- und Ausland gebeten, zu der aus 27 Briefen bestehenden Abhandlung ihre Kommentare abzugeben. Schriftsteller und Künstler wie Nino Haratischwili, Lars Brandt, Olga Grjasnowa, Nora Gomringer und Jagoda Marinic sind so in der Sammlung vertreten. Auf die provokative Frage des Titels „Immer noch Barbaren?“ geben leider die wenigsten eine Antwort. Bedauerlicherweise überließen sich auch bei einer Vorstellung des Buches jetzt im Nationaltheater die geladenen Autoren eher ihren eigenen Einfällen und Vorurteilen, statt sich auf Schillers Gedanken einzulassen. Hinzu kam, dass der Kunstwissenschaftler und Philosoph Karlheinz Lüdeking starke Vorbehalte gegenüber Schillers Schrift hegt. In seinem einleitenden Buchbeitrag lässt er eine Nähe zur analytischen Philosophie angelsächsischer Prägung erkennen, indem er die mangelnde Überprüfbarkeit von Schillers Thesen, am bekanntesten die, der Mensch sei nur da ganz Mensch, wo er spiele, monierte. Mit anderen Worten: Das Spekulative, das die bloße Gegebenheit Überschreitende an Schillers Schrift, spricht ihn nicht an. Bei seinem Auftritt im Nationaltheater nun ließ Lüdeking die enorme Wirkung von Schillers Abhandlung nicht nur auf die nachkantischen Idealisten Hölderlin, Schelling und Hegel, sondern auch auf die Romantik sang und klanglos unter den Tisch fallen. Zu seiner Ehre sei ihm allerdings zugutegehalten, dass er auf den Unterschied hinwies, der sich zwischen Schillers Kunstbegriff und der heutigen Kulturindustrie mit ihren Schlagern, Comics und ihrer seichten Kino- und Fernsehunterhaltung auftut. Das hinderte ihn freilich nicht, Schillers Ziel eines als Kunstwerk organisierten Staates „ein bisschen spießbürgerlich“, „eine Wohlfühlutopie“ zu nennen. Damit pflichtete Lüdeking dem Dramatiker Wolfram Lotz bei, der Schillers 19. Brief – in einer sehr losen Anbindung – ironisch mit einer Erzählung von einer Eisenbahnfahrt und der Tötung eines Reisenden auf Anweisung des Marquis de Sade quittierte. Dagegen wäre darauf hinzuweisen, dass dem blutrünstigen Dramatiker Schiller die abgründige Seite im Menschen kaum verborgen geblieben sein dürfte. In der Abhandlung geht es ihm jedoch um den „guten Willen“, von Kant auch „heilig“ genannt, der zum Sittengesetz strebt. Die österreichische Schriftstellerin und Dramatikerin Kathrin Röggla als zweiter Gast bedauerte die Ökonomisierung der Kunst und wollte im Unterschied zu Schiller den Abstand zwischen Politik und Kunst unbedingt gewahrt wissen. So setzte am Ende die Schauspielerin Ragna Pitoll, der es vorbehalten war, Passagen aus Schillers Schrift vorzutragen, zu Schillers Ehrenrettung an. Sie hoffe, dass seine utopischen Vorstellungen den sich ankündigenden Wertewandel in einer digitalen Revolution beeinflussen werden. Keine Widerrede. Lesezeichen Immer noch Barbaren? Neue Briefe „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“, inspiriert von Friedrich Schiller. Hrsg. von Christian Holtzhauer und Juliane Hendes. 160 Seiten. Heidelberg 2019.

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