Ludwigshafen Mit der Vespa von Ludwigshafen nach Berlin

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Volker Kuhnerts Vespa in Berlin.

Mit seiner alten Vespa von Ludwigshafen nach Berlin, vom Rhein an die Spree – diesen Traum hat sich der in Ludwigshafen lebende Lehrer und RHEINPFALZ-Mitarbeiter Volker Kuhnert in diesem Sommer erfüllt. 26 Jahre nach seinem ersten Besuch machte er dabei auch wieder Station in der Partnerstadt Dessau-Roßlau in Sachsen-Anhalt. Was er unterwegs erlebt hat, hat der 44-Jährige für uns aufgeschrieben.

„Dann haben Sie Ihr Ziel ja erreicht“, sagte die Frau zu mir, derweil ich vor der Jugendherberge zu Nebra gerade dabei war, den „Hauptstadtroller“ für seinen letzten Ritt klarzumachen. Fragend blickte ich sie an, denn ich wollte gar nicht nach Nebra und hatte bis zum vorherigen Tag auch noch nie von der 3249-Seelen-Gemeinde in Sachsen-Anhalt gehört. Vorher wollte die Frau wissen, wann ich denn eigentlich losgefahren sei …

627 Kilometer Landstraße

Am Sonntag, 12. August, hatte ich den Roller, eine Vespa V50 von 1972, soweit zusammengeschraubt, dass ich meinem immer wieder auftauchenden „Sommerdämon“ endlich entgegentreten konnte: Einmal mit der Vespa von Ludwigshafen nach Berlin und wieder zurück; davon träumte ich schon seit Anfang der 2000er-Jahre. Und nie war der richtige Zeitpunkt; immer kam etwas dazwischen. Stets gab es Wichtigeres. Aber diesen Sommer ging’s endlich los. 627 Kilometer Landstraße lagen laut Google-Prophezeiung bis zur Hauptstadt vor mir. Etwa vier Tage hin, vier Tage dort und vier Tage zurück, so „plante“ ich die Tour auf knappe zwei Wochen. Erster Zwischenstopp war Frankfurt, und schon hier wurde mir klar: Mein Zeitplan entbehrte jeglicher Wettereinschätzung, denn in der Nacht wie auch den ganzen nächsten Tag regnete es in Strömen. Also das Beste draus machen. Wenn ich hier schon festsitze, schau ich mir die Gegend an – Innenstadt, Goethes Geburtshaus und abends den Velvet-Club.

Der Weg ist das Ziel

Am nächsten Tag ging es bis ins thüringische Eisenach. Auf diesen langen 186 Kilometern, vorbei an der ehemaligen innerdeutschen Grenze, wurde mir bei einer Höchstgeschwindigkeit von 60 Sachen immer bewusster, dass das Brandenburger Tor zu Berlin noch länger auf uns warten wird. „Entschleunigung“ als Prinzip tat nicht nur dem Zweitaktmotor der Vespa gut, sondern beeinflusste von nun an zunehmend mein Denken. Eisenach mit seiner Wartburg und dem nahegelegenen „Erlebnisbergwerk“ in Merkers waren wie die gesamte Umgebung viel zu interessant, um nach einer Übernachtung gleich weiterzurasen. Die nächsten 192 Kilometer bis nach Leipzig gaben mir den ganzen Tag Zeit, bei permanenter sonniger Hitze immer mehr in die Tiefen sonst eher banal klingender Kalenderweisheiten einzutauchen: dass der Weg mit Kafkas Worten das Ziel ist; mentales „Ballast abwerfen“ und die Reduktion aufs Wesentliche, indem ich mich fragte, wieso ich eigentlich meine Schmutzwäsche auf der Mini-Vespa durch die halbe Republik schleppe. Nach zwei Tagen im pulsierenden, ungemein beeindruckenden Leipzig mit seinem aggressiven Verkehr, dem gigantischen Völkerschlachtdenkmal und seiner eigentümlichen sommerlichen Feierkultur war „Zuhause“ ganz weit weg. Ein großer Vorteil des Alleinereisens ist: Man wird automatisch offen, geht zwangsläufig auf fremde Menschen zu. Und es ist unglaublich, was diese Menschen einem geben, wenn man ihnen mit Freundlichkeit und Wertschätzung entgegentritt.

Zwischen Erinnerung und Aktualität

Das Ziel? Ja, immer noch Berlin. Da kam ich auch irgendwann an und hatte einen Riesenspaß dabei, den kilometerlangen Boulevard vorbei an der Siegessäule bis zum Brandenburger Tor zu cruisen und anschließend mit dem „Hauptstadtroller“ das Regierungsviertel und den Checkpoint Charlie zu stürmen. Schnell wurde mir aber auch klar, dass mich hier eigentlich nicht viel Neues erwartet. Mit anderen Verkehrsmitteln bin ich ja schon über 30 Mal dort gewesen. Der ganz unerwartete Schwerpunkt meiner wilden Fahrt durch Ostdeutschland ergab sich schon 135 Kilometer vor Berlin: Dessau. Unsere Partnerstadt. Dort war ich das letzte Mal vor 26 Jahren. Bis dahin hatte ich aufgrund einer Wende-Jugendliebe eineinhalb Jahre fast jedes Wochenende in Dessau verbracht. Ich kam mir vor wie in „Zurück in die Zukunft“: Einerseits hat sich die Stadt an vielen Stellen völlig neu entwickelt. Es dauerte aber nicht lange, bis ich an Orten wie dem Pollingpark, dem Bauhaus-Café oder den nahegelegenen Wörlitzer Parkanlagen von der Deckungsgleichheit zwischen Erinnerung und Aktualität permanent feuchte Augen bekam. So lag Dessau auch auf dem Rückweg des „Hauptstadtrollers“. Und von der äußerst empfehlenswerten Jugendherberge aus nahm ich mir noch weitere sechs Tage Zeit, um in Sternschritten die Gegend zu erkunden. Zurück in Leipzig, bekam ich den Tipp, die nächste Etappe bis Nebra zu machen. Auf dieser Etappe brannte der Vespa leider das Licht durch. Ersatzteile waren nicht so schnell zu bekommen, und überhaupt wurde plötzlich alles hektisch. Also rief ich schweren Herzens einen Freund an, der mich letztlich zwischen Nebra und Erfurt mit seinem Motorradanhänger einsammelte. Was meinte also die Frau am 1. September in Nebra damit, dass ich am Ziel wäre? Wann ich losgefahren bin, konnte ich ihr aus dem Kopf nicht sagen. „Wenn Sie gar nicht mehr wissen, wie lange Sie schon unterwegs sind“, erklärte sie mir, „dann haben Sie doch eigentlich alles erreicht, oder?“

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