Ludwigshafen Faust im Bunker

So rustikal wie der Charme der Chemiestadt ist bisweilen auch der von Christoph Heller. Etwa wenn Sätze aus ihm sprudeln wie: „Jeder, der sagt, dass man in Ludwigshafen nicht schön wohnen kann, müsste man erschießen.“ Der 51-Jährige steht am Knödelbrunnen in der Fußgängerzone und blickt zur Lutherkirche. Dahinter, erzählt der Ortsvorsteher, sei das alte Umspannwerk längst zu einem modernen Quartier umgebaut worden. „Eine wunderschöne Geschichte, energetisch auf dem neusten Stand“, doziert der Christdemokrat und rühmt „die hohe Wohnqualität“ am Rheinufer Süd oder auf der Parkinsel. Der Chef eines Malerbetriebs pinselt die Stadt in schillernden Farben. Er sagt: „Ludwigshafen ist schöner als sein Ruf.“ Und er hat recht. Zumindest finden das die meisten der 60 Neugierigen, die Heller gestern Abend ab 17 Uhr zwei Stunden lang durch die Innenstadt folgen – 35 mehr, als die Reihe „Ortsvorsteher zeigen ihren Stadtteil“ des Marketingvereins eigentlich vorsieht. Heller freut sich über den großen Zuspruch. Seine erdige, unkonventionelle Art kommt an, seine Führungen sind traditionell immer gut besucht. Im Schlepptau hat er den Historiker Hans-Jürgen Becker (51), „weil ich 90 Prozent, von dem, was er weiß, nicht gewusst hätte“, wie er später sagt. Becker weiß tatsächlich eine Menge. Beispielsweise, dass Ludwigshafen heute noch zwei Prachtstraßen hätte, „wäre da nicht der Zweite Weltkrieg dazwischen gekommen“. Durch ihn, sagt er beim Start am Rathaus, seien 90 Prozent der City zerstört worden. Wie Heller will er den Blick aber nach vorne richten, besser gesagt: nach oben. Über die ersten Etagen hinweg: Devise: Kopf hoch! Nicht unten ärgern, sondern oben staunen. Etwa über die Architektur aus den 50er- und 60er-Jahren. „Schätze, die man kaum wahrnimmt“, wie Becker meint. Oder die zahlreichen sanierten Gebäude, die wegen der Ödnis in den Erdgeschossen im Alltag völlig ignoriert würden. 60 Millionen Euro aus Privathand seien seit 2007 in dem Sanierungsgebiet investiert, 45 Immobilien renoviert worden, verdeutlicht Heller. „Wegen der Leerstände geht der Blick für das Schöne leider oft verloren“, sagt er. Einige Zuhörer nicken. An der Ecke Bismarck-/Amtsstraße erstreckt sich über einem verwaisten Discount-Bäcker eine wunderbar erhaltene Kachelwand. Der Gegensatz zwischen früherem Glanz und heutiger Trostlosigkeit wird hier besonders deutlich. Keineswegs trostlos, sondern immer noch imposant ist das Gebäude in der Kaiser-Wilhelm-Straße, in der heute die Hypo-Vereinsbank residiert. 1902 wurde es gebaut und war einst Sitz der Königlich Bayrischen Staatsbank. „Das Dachgeschoss ist im Krieg abgebrannt. Dort befanden sich Bäder für die Angestellten“, berichtet Becker. „Nutzen sie den Platz“, fordert Heller die Teilnehmer zuvor im Komplett erneuten Bürgerhof auf. Ihm fällt ein gelungenes Projekt nach dem anderen ein: der Neustart des Bismarck-Zentrums, der Verkauf des ehemaligen Kaufhofs oder die Sanierung der Stadtbibliothek. „Ich könnte Sie erschlagen mit Informationen.“ Macht er aber nicht. Stattdessen entführt er die Zuhörer in den Bunker sieben Meter unter dem Ankerhof, wo bei Kerzenlicht klassische Töne mit Geige und Klavier erklingen: Concertino g-Moll von Adolf Huber, arrangiert von Musikschulleiterin Angela Bauer. Theater-Intendant Tilman Gersch inszeniert mit einem Kollegen Goethes Faust. Die Überraschung gelingt. Sie ernten dafür viel Applaus. „Das hat Spaß gemacht. Ich habe die Stadt heute aus einem ganz anderen Blickwinkel gesehen“, sagt Marco Hinze bei der abschließenden Brotzeit auf dem Friedrich-Wilhelm Wagner-Platz. Der 33-Jährige ist Polizist in Ludwigshafen, wohnt aber wie seine Kollegin Sonja Walter (32) in der Westpfalz. „Wir arbeiten seit zehn Jahren hier und wollten mehr von Ludwigshafen erfahren“, sagt sie. Wie Gernot Jeck (48), Augenoptiker aus Maudach. „Nur so lernt man Ludwigshafen besser kennen“, meint der gebürtige Wormser. Ganz im Sinne Hellers ist die Antwort von Studiendirektor Bernd Schwöbel (65). Auf die Frage, warum er vor anderthalb Jahren von Heidelberg an den Theaterplatz gezogen ist, sagt er: „Weil Ludwigshafen eine schöne Stadt ist.“

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