Ludwigshafen Ein Windstoß rüttelt am Kartenhaus

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„Deutschland gucken“ kann heißen, ein Spiel der deutschen Fußballnationalmannschaft zu verfolgen. Viel über die Stimmung im Land erfährt jedoch auch, wer auf die schaut, die das Spiel verfolgen. Diese Möglichkeit eröffnet das Düsseldorfer Kom(m)ödchen mit seinem neuen Programm dieses Namens, mit dem das Kabarett-Ensemble im Bürgersaal im Mannheimer Stadthaus N1 zu Gast war.

Der Veranstalter, die Klapsmühl’ am Rathaus, ist ins nahe Stadthaus umgezogen, weil die eigene Bühne zu klein ist für gleich vier Kabarettisten, die obendrein noch etliche Kulissen und Requisiten vom Sofa bis zum Fernseher im Gepäck haben. Die abgewetzte Couch, der rote Uralt-Röhrenfernseher, die Ikea-Regale voller ausgelesener Bücher und leerer Pizza-Kartons stellen das Zimmer eines übrig gebliebenen Singles dar, eigentlich eher eine kleine Studentenbude denn eine wahrhaftige Wohnung. Die Butze sei so verkommen und verschmutzt, heißt es an einer Stelle im Stück, dass Besucher ihre Schuhe kaum abputzen, wenn sie eintreten, dafür umso mehr, sobald sie die Wohnung verlassen. In ihr agieren Maike Kühl, Daniel Graf, Martin Maier-Bode und Heiko Seidel und somit fast die gesamte aktuelle Stammbesetzung des legendären Kom(m)ödchens am Düsseldorfer Kay-und-Lore-Lorentz-Platz. Lediglich Christian Ehring fehlt. Der auch aus dem Fernsehen bekannte Kabarettist hat dafür am Stück mitgeschrieben, zusammen mit dem Kom(m)ödchen-Hausautor und Grimme-Preisträger Dietmar Jacobs und Martin Maier-Bode, der vor knapp zwei Jahren von der Berliner Distel nach Düsseldorf kam. Dieter und Bodo kommen bei Lutz zusammen, um „Deutschland zu gucken“, genauer: eine Neuauflage des Länderspielklassikers Deutschland gegen Holland. Eine Tradition der Freunde seit unvordenklichen Zeiten, samt Bier, Kräckern und Frikadellen und möglichst ohne Frauen. Diesmal ist allerdings eine dabei: die Schweizerin Solveig, Bodos neue Freundin, die Fußball nicht als Fan, vielmehr als spannendes soziales Phänomen begreift, dem sie sich zu allem Übel annähern möchte, indem sie Bodo, Dieter und Lutz beim „Deutschland gucken“ filmt. Die Dokumentarfilmerin möchte den neuen fröhlichen Patriotismus der Deutschen abbilden, der sich darin äußert, dass unverkrampft Fähnchen geschwenkt werden, auch wenn die eigene Mannschaft verliert. Mit Solveig und ihrer Kamera entwickelt der Männerabend aber eine ganz neue Dynamik. Die Freunde, die sonst nur gemütlich getrunken, geknabbert, das Ergebnis getippt und sich über das Spiel ereifert haben, sehen sich nun ungewollt mit Fragen konfrontiert, die ihre Identität, ihre Lebensentwürfe oder das Nationalgefühl betreffen. Wo sonst wortloses Einverständnis herrscht, muss Bodo, der Solveig eingeführt hat, sich die Frage gefallen lassen: „Ist dir klar, dass gerade ein eiskalter Windstoß am Kartenhaus unserer Freundschaft rüttelt?!“ Lutz meint: „Patriotismus ist primitiv. Heimat ist die allersimpelste Identifikation für allersimpelste Volldeppen.“ Nur Leute mit Intelligenzzölibat bildeten sich auf ihre Heimat etwas ein. „Eine gesunde Distanz zu meinem eigenen Land ist für mich ein Ausweis von Reife und Reflexionsvermögen“, so Lutz. Dieter, im DFB-Auswärtstrikot, bringt es auch nicht über die Lippen zu erklären, er sei stolz auf sein Land, obwohl er das eigentlich ist. Der eine sagt, der andere rede alles runter. Der andere sagt, der eine rede alles schön, was Kohl und Merkel vorgeplappert hätten. Der Abend bietet mehr als zwei Stunden lang ein sehr unterhaltsames, witziges und zum Ende hin turbulentes Boulevardstück mit großen und großartigen Kabarettanteilen.

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