Heidelberg Auf nach Ohio: Leser diskutieren beim „Shared Reading“ des Karlstorbahnhofs

Corona hat so vieles verhindert, zur Absage gezwungen, platzen lassen. Aber es hat auch Dinge ermöglicht. Ohne Corona würden nicht Woche für Woche etwa zehn einander fremde Menschen zu einem sehr persönlichen Austausch über Literatur zusammenkommen, jeder in seinem eigenen Wohnzimmer, Arbeitszimmer, in der Leseecke. Manche von ihnen wären sich vielleicht bei realen Treffen, die es vorher gab und hinterher wieder geben soll, begegnet, im Heidelberger Karlstorbahnhof, in der Volkshochschule, anderswo. Aber manch einem wäre die Anreise dahin vielleicht auch zu mühsam erschienen, zu weit, und ob man überhaupt einen Parkplatz findet?

Ganz auf die Lektüre konzentriert

So sitzt also nun jeder bei sich zu Hause, von 19 bis 20 Uhr, zwischen Feierabend und Freizeit, zwischen Abendessen und Kinder ins Bett bringen, man erfährt nichts Privates von den anderen. Nur den Namen, den sie sich selbst beim Einloggen gegeben haben, in einer kurzen Vorstellungsrunde erzählen sie noch, wo sie leben. Aus Mainz ist eine junge Frau zugeschaltet, in Mosbach sitzt ein älteres Ehepaar auf dem Sofa, aus Karlsruhe kommt etwas später ein Mann dazu. Alle anderen sind Frauen, mittelalte und nicht ganz junge. Genau die Zielgruppe, die eigentlich Bücher kauft und liest, aber vor lauter Familie, Arbeit und Verpflichtungen weniger, als sie eigentlich möchte. Eine Stunde lang kann, darf und soll man sich nun völlig auf die Lektüre und das Gespräch darüber konzentrieren.

„Shared Reading“ heißt die in Liverpool geborene Initiative, „Geteiltes Lesen“ oder „Gemeinsames Lesen“. In Deutschland gibt es einige Ableger, darunter seit zwei Jahren einen in Heidelberg. Die Teilnahme an den Runden ist kostenfrei und unverbindlich; man muss sich lediglich anmelden, um die Zugangsdaten für die Videokonferenz zu bekommen. Um teilnehmen zu können, lädt man eine App auf das Smartphone oder Tablet, und man braucht Kopfhörer. Das ist alles. Es muss nichts vorher gelesen oder vorbereitet werden, man muss kein literarisches oder philosophisches Vorwissen mitbringen. Jeder kann sich einbringen, niemand wird aktiv dazu aufgefordert. Die Atmosphäre ist ruhig, sehr angenehm.

Wenn Worte tanzen

Dafür sorgt Susanne Jung. Sie ist die Gastgeberin des Abends und ehrenamtliche Leseleiterin, im Jargon von „Shared Reading“ heißt sie „Facilitator“. Um sich so nennen zu können, hat sie wie rund 20 andere Menschen in Heidelberg eine von Sponsoren finanzierte Ausbildung durchlaufen. An diesem Dienstagabend nimmt sie die bunt zusammengewürfelte schnell zur Gemeinschaft gewachsene Gruppe mit nach „Winesburg, Ohio“ und in eine in diesem Band veröffentlichte Kurzgeschichte des amerikanischen Schriftstellers Sherwood Anderson. Es ist ein Text über einen alten Mann, der über die Begegnungen seines Lebens sinniert. Wir sind schnell bei grundlegenden Fragen von Wahrheit und Wirklichkeit, von Toleranz und kritischem Hinterfragen. Und damit irgendwie schon wieder bei Corona.

Die Leseleiterin findet die Äußerungen alle „interessant“, die Gedanken „spannend“. Und das sind sie auch. Jeder der zufällig zusammengekommenen Menschen bringt eine eigene Perspektive mit, eine eigene Art, den Text zu interpretieren, manche reden mehr, manche sagen nur einmal was. Am Ende liest Susanne Jung noch ein Gedicht der türkischen Lyrikerin Müesser Yeniay. „In dieser Nacht sollen hier deine Worte tanzen“, heißt es darin. Eine Teilnehmerin sagt, sie empfinde dabei etwas Friedliches, Zufriedenes. Und das ist tatsächlich das Gefühl, das diese „Shared Reading“-Session auslöst.

Am Wochenende des 21. und 22. März wollte sich die Initiative eigentlich an verschiedenen Orten in Mannheim vorstellen und bekannter machen. Das ist nun in den Herbst verschoben worden. Langfristig sollen auch für Mannheim/Ludwigshafen Leseleiter und Leseleiterinnen ausgebildet werden und eigene Gruppen entstehen. Bis dahin kann sich jeder, der Lust auf Literatur hat, zu einer Online-Session anmelden.

Im Netz

Lese-Session online über die Webseite www.karlstorbahnhof.de/sharedreading/shared-reading.
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