Kreis Kaiserslautern „Schieß doch emol!“

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Es hat etwas länger gedauert. Bis kurz vor Mitternacht mussten die deutschen Fans am Samstag zittern. Doch nach einem dramatischen Elfmeterschießen gegen Italien war es endlich geschafft: Die deutsche Nationalmannschaft steht im Halbfinale. Bis es soweit war, lagen auch bei den rund 120 Fußballinteressierten im Ramsteiner Haus des Bürgers die Nerven blank.

„Geh doch dro, Mensch!“, ruft Renate Brussas in den Saal. „Die trauen sich net.“ Die Ramsteinerin mit Göcklinger Wurzeln feuert die Deutschen an. Ausgestattet mit Nationaltrikot und EM-Hut hadert sie während der regulären Spielzeit mit der Leistung der deutschen Nationalmannschaft. Die Stimmung im Bürgerhaus ist angespannt. Der vermeintliche „Italienfluch“ lässt keine Lockerheit aufkommen. Deutschland hat in seiner langen Fußballgeschichte noch nie ein Europa- oder Weltmeisterschaftsspiel gegen die Azzurri gewonnen. Wie wird es heute Abend sein? Es geht um alles. Die K.O.-Runde hat bereits im Achtelfinale begonnen. Brussas ruft Richtung Leinwand: „ Schieß doch emol!“ „Mer Vorderpälzer misse halt die Schdimmung mache“, schmunzelt sie. Die Zuschauer blicken gespannt auf die Leinwand: „Aaaaah, ooooooh, uuuuuuh!“ Mitfiebern ist angesagt, als die Deutschen vergebens Richtung italienisches Tor vordringen. Doch was sie auch tun − in die Hände klatschen, laut raunen, Fähnchen schwingen: alles nutzt nichts: „Italien ist bärenstark in der Abwehr, kein Durchkommen“, kommentiert ein Besucher das torlose Spiel nach der ersten Halbzeit. Gibt es denn auch Italien-Fans unter den Anwesenden? Weit und breit keiner zu sehen. Stefan Grünfelder, der an diesem Abend mit Lisa Schirra den Ausschank im Bürgerhaus übernommen hat, vermutet einen Italien-Fan unter den Anwesenden. Auf die Fährte gebracht hat ihn der Getränkewunsch jenes Gastes: „Rotwein anstatt Bier“, verrät Grünfelder. „Oh, nein, nein! Ich komme aus Ungarn, wohne in Ramstein“, lacht der vermeintliche Squadra-Azzurra–Fan und stellt klar: „Ich bin für Deutschland!“ Auch in der zweiten Halbzeit nimmt das Spiel nicht wirklich Fahrt auf. „Oah, spielen die cool“, kommentiert ein Gast die Leistung der italienischen Abwehr. Schmerzensschreie gellen durch den Saal, als die Deutschen zwei vergebliche Torschüsse landen. Mit Applaus bewertet die Fangemeinde drei Gelbe Karten gegen italienische Spieler innerhalb von vier Minuten. Besonders ausgebuht wird Mattia de Sciglio nach einem hässlichen Foul gegen Joshua Kimmich. In der 65. Spielminute werden die Fans endlich für ihr Mitfiebern und Anfeuern belohnt: Mesut Özil erzielt das 1:0 für Deutschland. Riesenjubel brandet auf. Besucher fallen sich in die Arme und schwenken Fähnchen. Das könnte bereits die Entscheidung sein. Kurz darauf kann Gomez in akrobatischer Manier leider die Riesenchance zum 2:0 nicht umsetzen und verletzt sich am Oberschenkel. „Ich würde den Draxler reinbringen“, schlägt Dieter vor. Er ist seit frühester Jugend Fußballfan und weiß, wovon er redet. Prompt scheint Dieters Vorschlag bei Joachim Löw, dem deutschen Nationaltrainer, Gehör zu finden. Mit Applaus wird Gomez von den Zuschauern verabschiedet. Noch zwölf Minuten reguläre Spielzeit. Können die Deutschen das Ergebnis halten? Die Partie ist weiterhin offen. Ein zweites Tor brächte wesentlich mehr Sicherheit. Doch diese Hoffnung macht Jerôme Boateng mit einem Handstreich zunichte: Der Ball prallt an seinem Arm ab, im Strafraum! Und Leonardo Bonucci verwandelt souverän. Die Verzweiflung im Raum ist zu riechen. Diskussionen an allen Tischen branden auf. „Warum hat er die Arme oben?“ Die Zuschauer sind schockiert. Sie halten sich die Hände vor den Mund und sind fassungslos. „Das darf doch nicht wahr sein“, beklagt Dieter den unerwarteten Ausgleichstreffer. Und an diesem Ergebnis ändert sich nichts mehr bis zum Abpfiff der regulären Spielzeit nach 90 Minuten. Marco Stuppy, der am Eingang zum Bürgerhaus die Gäste begrüßt und EM-Tippscheine ausgibt, zieht eine erste Bilanz: „Die Stimmung heute ist gedrückter. Es fehlen Tore. Am Sonntag, im Achtelfinale, war mehr Leben drin.“ Zu diesem Zeitpunkt ahnt Stuppy nicht, wie dramatisch das Spiel noch enden würde. Nach einer torlosen 30-minütigen Verlängerung gehen die beiden Nationalmannschaften ins Elfmeterschießen. Nägel kauend, Haare raufend, laut anfeuernd oder still in sich hinein leidend, durchzittern die Zuschauer den an Spannung nicht mehr zu überbietenden Fußballkrimi der letzten, entscheidenden Minuten. „Ich halte das nicht aus“, stöhnt eine junge Frau und schaut dennoch gebannt auf die Großbildleinwand. Insgesamt 18 Elfmeter werden geschossen. Neun für jede Mannschaft, neun! Und Deutschland gewinnt schließlich 6:5! Manuel Neuer hält das DFB-Team im Elfmeterschießen mit zwei Super-Paraden in der Partie. Ausgerechnet die Erfahrenen unter den Spielern –Thomas Müller, Mesut Özil und Bastian Schweinsteiger – verlieren die Nerven. Die liegen auch bei den Fans im Bürgerhaus blank. Das Zittern und Bangen will kein Ende nehmen. Auch nach fünf Elfmetern liegen beide Teams gleichauf. Jetzt zählt jeder Schuss. Jonas Hector erlöst die zitternde Nation: Er verwandelt den 18. Elfmeter für das deutsche Team. „Ich kann es noch gar nicht fassen.“ Erleichtert und schier ungläubig starrt Dieter auf das Endergebnis. Ihm ist die Freude über den Sieg der deutschen Equipe deutlich anzusehen. Fremde und Freunde liegen sich in den Armen und jubeln gemeinsam: „Geht doch“, ruft ein Fan vom anderen Ende des Saales: „Wir können gegen Italien gewinnen!“

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