Kreis Germersheim Einblick in Front-Alltag

Bei strahlendem Sonnenschein begann im August 1914 der Erste Weltkrieg. 100 Jahre später, am 3. Oktober 2014, kam er bei ebenso schönem Wetter nach Kandel. Unter diesem Motto eröffnete der von Werner Esser geleitete „Arbeitskreis Geschichte der Volkshochschule Kandel“ seine sorgfältig erarbeitete Ausstellung zur „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“. Dazu fanden sich zahlreiche Besucher in der Stadthalle ein, darunter Vertreter der elsässischen Partnerstadt Reichshoffen.

Einleitend erinnerte Stadtbürgermeister Günther Tielebörger daran, wie leichtfertig die Gefahr des Krieges unterschätzt und sein Charakter verkannt wurde. „Bis Weihnachten sind wir wieder daheim!“ glaubten die Soldaten. Sie irrten: Mindestens 164 Kandeler starben im bis dahin blutigsten Massenkrieg der Menschheit. Viele durchlebten an der Front die Hölle. Zuhause litten ihre Angehörigen jahrelang Not und Elend. Der militärische Hauptstoß galt 1914 dem verhassten „Erbfeind“ Frankreich. 2014 ist dieser Deutschlands „Erbfreund“, 82 Prozent der Franzosen schätzen heute den deutschen Nachbarn als ihren vertrauenswürdigsten europäischen Partner. Ein Wunder? Eher harte, bisweilen frustrierende Arbeit, zitiert Tielebörger den deutsch-französischen Politikwissenschaftler Alfred Grosser. Das unablässige Bemühen der nun demokratisch gefestigten Völker um Kooperation und freundschaftliche Nähe habe seit 1952 beziehungsweise 1963 die feindselige Distanz und Vorurteile überwunden. Erst dies ermöglichte den mittlerweile so selbstverständlich scheinenden Frieden, auf dem die europäische Einigung fußt. Faktenreich referierte dann der Nußdorfer Historiker Heinrich Thalmann – ein gebürtiger Kandeler – , wie die zum Königreich Bayern gehörenden Pfälzer den Krieg erlebten. Auch er zeigte das Geschehen an Front und Heimat. Hier übernahm das Militär zu Kriegsbeginn die vollziehende Gewalt. Das bedeutete eingeschränkte Grundrechte und strenge Zensur von Presse und Post. Staatliche Kommunalverbände sollten die durch die britische Seeblockade gefährdete Versorgung gewährleisten, Prüfstellen die festgesetzten Preise kontrollieren. Sie versagten jämmerlich: Vielmehr galoppierte die Teuerung, ineffiziente Verteilung und krasser Mangel an Gütern ließen den Schwarzmarkt blühen, das „Hamstern“ von rationierten Lebensmitteln geriet zum Volkssport – zur Freude der Erzeuger. 1916 verschlechterte sich die Stimmungslage. Daraus erwuchs die Resignation des Jahres 1918, trotz intensivierter Propaganda. Die warb eifrig für Kriegsanleihen, präsentierte „vaterländische Theateraufführungen“ und „Nagelmänner“, deren Erlös pro Nagel den Kriegswaisen zugute kam. Am 11. November 1918 besiegelte der Waffenstillstand die deutsche Niederlage. 20 Tage später besetzten französische Truppen Kandel. Die Pfälzer, schloss Thalmann, waren ein Faustpfand, langfristig entfremdete sie das dem bayerischen „Mutterland“. Vom Schicksal der 164 gefallenen, vermissten und verwundeten Kandeler berichtet die biografisch detaillierte „Verlustliste des Ersten Weltkriegs“. Es sind wesentlich mehr als bislang bekannt, erläuterte Esser. Dazu inspiriert hatte ihn vor über zwei Jahren das Gefallenen-Ehrenmal in Reichshoffen. 30 Schautafeln präsentieren eine Fülle zeitgenössischer Abbildungen und Dokumente, teilweise als Farbfaksimile. Sie sind thematisch zu einem hochinformativen Bilderbogen geordnet, der vom allgemeinen politischen und Kriegsgeschehen bis zu den konkreten Auswirkungen auf die Menschen vor Ort reicht. Sensibel und anschaulich vermittelt er dem Besucher die persönliche Sicht der Kandeler, daheim wie an der Front. Der Betrachter erhält ungefiltert Einblick in ihre Gedankenwelt, in ihre Alltagssorgen und -hoffnungen inmitten des großen Krieges. Beides, der lokale und der persönliche Zugang, fasziniert. Genau das unterscheidet diese kleine, feine Ausstellung so wohltuend von den medialen Inszenierungen zum gleichen Thema. „In diesem großen Zusammenhang habe ich das Leben meines Großvaters noch nicht gesehen. Jetzt kenne ich ihn besser“, bilanziert ein Besucher nachdenklich. Ein anderer nickt zustimmend. Sie werden nicht die einzigen bleiben, die sich auf Geschichte einlassen und dann von ihrer Lebendigkeit und dem reichen Erkenntnisgewinn überrascht sind.

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