Kaiserslautern Zurück zu den Ursprüngen

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Das Oeuvre der heiligen Hildegard von Bingen mit 77 Gesängen und einem geistlichen Singspiel war für die Ostersoiree der Versöhnungskirche einer der prägenden Ausgangspunkte. Am Ostermontag würdigte der Rezitator und Referent Christoph Gockel-Böhner nicht nur Leben und Werk der mittelalterlichen Äbtissin, Schriftstellerin und Komponistin, sondern er führte auch in das Konzert mit der Kantorei der Versöhnungskirche und ihren Gästen ein.

In ihrer Zeit des Mittelalters von 1098 bis 1179 sind namentliche Überlieferungen – noch dazu von komponierenden Frauen – sehr selten. Neben Hildegard von Bingens Visionsschriften, den medizinischen Abhandlungen und ihren naturalistischen Beobachtungen nehmen die Kompositionen über die Jahrhunderte scheinbar eine untergeordnete Bedeutung ein. Das änderte sich allerdings gegen Ende des 19. Jahrhunderts und vor allem seit der ständigen Beachtung – ausgelöst durch ihren 900. Geburtstag –, als immer mehr Vokalensembles für Alte Musik sich ihrer Musik zuwandten. Mittlerweile ist Hildegard von Bingen sogar zu einer Kultfigur geworden. Ihre Gesänge werfen grundsätzliche Interpretationsprobleme auf: Während die Kantorei sich unter der Leitung von Helmut Emrich (in Vertretung von Uwe Farke) bei einem vierstimmigen Antiphon auf eine Vortragsweise aus heutiger Sicht verlegte, zeigten die beiden Schwestern Regine und Sibylle Neumüller ein tiefes historisches Verständnis. Beide Sängerinnen stammen aus der Talentschmiede der Versöhnungskirchenkantorei, haben überregionale Karrieren aufgebaut und kehren immer wieder gern zu „ihrem Ursprung“ zurück. Sie studierten an den Musikhochschulen Mannheim-Heidelberg und Saarbrücken bei renommierten Gesangspädagogen. Regine Neumüller arbeitet freischaffend, Sibylle Neumüller ist Mitglied des MDR-Rundfunkchors Leipzig. Hymnen, Psalmvertonungen dieser Zeit wurden so gestaltet, dass anstelle des heutigen Akzentstufentaktes die Textsilbe das prägende rhythmische Moment darstellt: Diese Silben sind der eigentliche Puls, die melismatischen Auszierungen werden entsprechend schneller gesungen als die syllabischen. So entsteht eine Strukturierung, die der Prosodie des Textes folgt und gleichzeitig in jubelnden (Marienlieder) und dramatischen (Bittgesänge) Aufschwüngen den textlichen Gehalt ausdeutet. Dies gelang den beiden Ausführenden vorzüglich. Dass dies im harmonischen Zusammenwirken ohne Blickkontakt, ohne Handbewegung und die damals verbreitete Zeichengebung nahtlos und organisch fließend realisiert wurde, spricht für die stilistische Kompetenz und die profunde Auseinandersetzung mit Notation und Aufführungspraxis, die als mensuralistisch bezeichnet wird. Wie die Vortragsweise an den geistlichen Text etwa von Psalmen gebunden ist, ist auch die Aufführung an die Liturgie gebunden, ergibt mit ihr eine Einheit. Die Vortragsfolge war beseelt von großer Innigkeit, Inkarnation der stimmlichen Reinheit und kristallener Klarheit. Die Stimmen umschmeichelten sich in dialogischer Verbundenheit im Wechselgesang oder in gemeinsamer harmonischer Übereinstimmung. Entweder unbegleitet oder mit dezenter sporadischer Begleitung von Anfangs- und Endpunkten einer Linie auf einer kleinen historischen Harfe. Referent Christoph Gockel-Böhner ist Amtsleiter des Kulturamts Paderborn und mit Regine Neumüller verheiratet. Er beleuchtete rhetorisch gewandt alle Lebensstationen der Komponistin und machte mit Auszügen aus ihren Schriften zur Natur- und Heilkunde deren Aktualität bewusst.

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