Kaiserslautern Wir sind Geist!

Optisch Kindergeburtstag, musikalisch eher Friedhof: Jamie-Lee ist Deutschlands quietschbunte Hoffnung beim Finale des Eurovision Song Contest am Samstag in Stockholm. Räumt die 18-Jährige voll ab? Oder fliegt die asiatisch angehauchte Disney-Lady-Gaga ohne Punkte und nur mit ihrem Schleifen-Teddybären-Perlen-Kostüm zurück?

Kann eine Zweitplatzierte mit zwei Vornamen beim ESC überhaupt etwas reißen? Im vergangenen Jahr hatte Ann Sophie für den zurückgetretenen Andreas Kümmert in Wien für Deutschland gesungen – und „zero points“ geholt. Jetzt tritt eine Quasi-Zweitplatzierte in Schweden an: Jamie-Lee. Sie wurde zwar vom Publikum gewählt – aber nur, weil die Verantwortlichen den ursprünglichen Kandidaten Xavier Naidoo zurückgepfiffen haben. Jung, weiblich, englischsprachiger Song, B-Ware, zwei Vornamen – Jamie-Lee und Ann Sophie haben vieles gemeinsam. Ob das beim ESC, dem wichtigsten Musikwettbewerb der Welt, gut geht? Sie geht noch zur Schule, will ihr Abi machen, wohnt noch im Hotel Mama im niedersächsischen Springe, nicht weit weg von Hannover, und ernährt sich seit einiger Zeit vegan. Wenn’s mit der Musik auf Dauer nicht klappt, dann studiert sie eben. Vielleicht Koreanistik. Jamie-Lee ist schon etwas Besonderes – auch beim ESC in Stockholm. Dort ist die 18-Jährige bereits seit Freitag, um fürs Finale zu proben. Nebenbei hat sie auch noch Termine. Egal, ob sie auf der imposanten Bühne in der Globe-Arena steht oder zur Entspannung eine Runde Achterbahn fährt: In Stockholm fällt sie auf, vor allem mit ihrem Äußeren. Jamie-Lee bezeichnet sich selbst als Fan des K-Pops, der populären Musik aus Südkorea. Sie mag Mangas, japanische Comics, und vergöttert Animes, japanische Zeichentrickfilme. Die asiatische Popkultur, die ziemlich schrill ist und gerne verniedlicht, hat es ihr angetan – und das zeigt die junge Sängerin, die für den Song Contest extra ihren leicht sperrigen Nachnamen Kriewitz abgelegt hat: Sie trägt gerne quietschbunte Klamotten und ausladenden Kopfschmuck samt Teddybären und sonstigem Zeug aus Plüsch und Plastik. Sie vermischt alles, was sonst in Kinderzimmern auf dem Boden herumliegt – und präsentiert sich dann als asiatische Lady-Gaga-Disney-Prinzessin. Gäbe es einen Asian Song Contest – Jamie-Lee wäre die Gewinnerin. Doch am Samstag geht sie beim Eurovision Song Contest an den Start – und da stehen ihre Chancen auf eine Top-Platzierung nicht wirklich gut, trotz toller Stimme. Niemand traut der 18-Jährigen so richtig den Sieg zu. Englische Buchmacher zum Beispiel gehen davon aus, dass sie auf einem hinteren Mittelfeldplatz landen wird. Und das dürfte vor allem an der Musik liegen. Optisch könnte Jamie-Lee auf einem Kindergeburtstag auftreten, bei dem es ganz viel Zuckerwatte gibt. In Sachen Musik erwartet der Zuhörer da etwas ähnlich Poppiges, Fröhliches, Schrilles. Doch ihr Song „Ghost“, den sie am Samstag singen wird, ist genau das Gegenteil. Das Lied, mit dem sie vor knapp einem halben Jahr die Casting-Show „The Voice of Germany“ gewonnen hat, ist melancholisch, ziemlich düster, handelt vom Ende einer Beziehung. Es geht um Liebe, um ganz viel Herzschmerz. Der Song ist eine gut gemachte Popnummer, keine Frage, und erinnert ein bisschen an Rihannas Ohrwurm „Umbrella“. Das Problem: „Ghost“ ist ziemlich geistlos, plätschert drei Minuten lang einfach nur vor sich hin, ohne Höhen, ohne Tiefen. Schmerzt nicht wirklich, geht aber auch nicht so richtig ins Ohr, wie übrigens auch die neun anderen Songs auf ihrem gerade erschienenen Album, benannt nach der Stadt, in der sie schon bald wohnen möchte: Berlin. Für den ESC, bei dem die meisten stimmberechtigten TV-Zuschauer Jamie-Lee zum allerersten Mal hören werden, ist so was zu schwach. Da gibt es andere Teilnehmer, die nicht nur eingängigere Nummern mit nach Schweden gebracht haben, sondern auch spritzigere Auftritte hinlegen dürften. Wenn Jamie-Lee am Samstag die Bühne betritt, geht der Mond auf. Dann wird sie zwischen kahlen Bäumen vor zig Millionen TV-Zuschauern performen. Sie wird lächeln, süß, brav und unschuldig wirken, während sie sich im Schleifenkleid Kopf behutsam durch Nebelschwaden bewegt. Wie bei den Proben wird sie ihren Auftritt meistern, ohne aufgeregt zu wirken. Wahrscheinlich wird man ihr aber anmerken, dass sie zu den jüngsten Teilnehmern gehört und noch nicht ganz so viele Show-Erfahrungen sammeln konnte. Jamie-Lee ist schüchtern, wirkt gehemmt – und ist damit genau das Gegenteil von Lena, die mit ihrem fröhlichen „Satellite“ 2010 den ESC nach Deutschland geholt und es damals bestens verstanden hatte, sich bei Pressekonferenzen oder bei Auftritten wie etwa in der deutschen Botschaft in Szene zu setzen. Jamie-Lees Ding ist das nicht. Nicht so viel reden, lieber niedlich mit den Wimpern klimpern, nett sein und ein bisschen mit dem Spielbein spielen – das ist Jamie-Lee. Und das ist auch okay so. Aber für den ESC, eine Unterhaltungsshow, und den ganzen Zirkus drum herum ist auch das zu wenig. Auf welchem Platz das Manga-Mädchen landen wird, wird sich am Samstag gegen Mitternacht zeigen. Dann steigt das große Finale, Jamie-Lees Reifeprüfung. Sie selbst sagt, dass sie es überhaupt nicht einschätzen kann, wo sie am Ende landen wird. „Ich hoffe, im Mittelfeld oder weiter vorne.“ Unterstützung gibt`s vor Ort schon jetzt reichlich – nicht nur von ihren Entdeckern Smudo und Michi Beck von den Fantastischen Vier, sondern auch von vielen Fans. Die sind in Stockholm sofort zu erkennen, auch wenn sie mal nicht mit dem Deutschland-Fähnchen wedeln: Sie tragen pinkfarbene Haarreife mit drangestecktem Plunder aus Pappe. Es ist das Trend-Trash-Accessoire des ESC und wird in Stockholm kostenlos verteilt. Jeder darf mal Geist sein. ESC-Blog Nicht nur Jamie-Lee ist zurzeit in Stockholm, sondern auch die RHEINPFALZ. Im Internet berichtet unser Redakteur Jan Peter Kern über den ESC: esc-blog.rheinpfalz.de.

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