Kaiserslautern Die Opfer des Dichters

Seine Karriere begann einst in Wiesbaden, nun ehrt das Hessische Staatstheater in der Landeshauptstadt den 2012 verstorbenen Komponisten Hans Werner Henze auf besondere Weise: Henzes Oper „Elegie für junge Liebende“ eröffnete am Donnerstag die Internationalen Maifestspiele Wiesbaden.

„Das ist ganz schön schräg und perfide“, meinten Zuschauer spontan. Unter der souveränen, seismografisch konterkarierenden Regie von Dietrich Hilsdorf entfaltete sich in Dieter Richters Einheitsbühne das Psychodrama um den Dichter Gregor Mittenhofer (Sébastien Soules) und seinen „Hofstaat“, den Arzt Dr. Wilhelm Reischmann (Bernd Hofmann), die ihm ergebene Sekretärin und Mäzenin Carolina Gräfin von Kirchstetten (Ute Döring) sowie seine Muse Elisabeth Zimmer (Sharon Kempton). Mittenhofer instrumentalisiert alles und jeden als Inspiration für seine Dichtung, „ohne Rücksicht auf Verluste“ – oder Gefühle. Skeptisch steht ihm nur Reischmanns Sohn Toni (Markus Francke) gegenüber. Auch für sein gerade begonnenes neues Werk, das er an seinem 60. Geburtstag vorstellen will, kommen ihm die Visionen der Witwe Hilde Mack (Emma Pearson) zugute, deren Mann vor 40 Jahren im Gletschereis des Hammerhorns verschollen ist; ebenso wie das Verschwinden des Paares Toni und Elisabeth, seiner Ex-Geliebten, die er selbst unter einem Vorwand in den Tod schickt. Das alles spielt sich in einem Berghotel in den Alpen ab, zwischen einer großen Uhr, die von der Decke hängt, und dem allgegenwärtigen, zeitlosen Gletscherriesen Hammerhorn im Hintergrund – zwischen den Symbolen von mechanisch-tickender Zeit und unverrückbarer Ewigkeit. Im Raum ändert sich wenig, im Geschehen und vor allem in der Musik dafür umso mehr. Stilzitate sind häufig in dieser kammermusikalisch feinen Partitur, dennoch ist Hans Werner Henzes Komposition weit entfernt von eklektizistischem Epigonentum. Ein ganzes Universum musikalischer Stile und Konzepte wird da angesprochen, kombiniert, zerlegt und selbst in der Reflexion wieder gebrochen. Doch wie Henze aus den Splittern ein funkelndes musikalisches Kaleidoskop voller Anspielungen, Ironie, Sarkasmus und Doppelbödigkeit entstehen lässt und so eine Welt in ihrer Künstlichkeit entlarvt, indem er ihr einen Spiegel mit einem Sprung darin vorhält, das ist sein ureigener Stil, seine Meisterschaft: Orchestrale Protagonisten begleiten die Handelnden; jeder Figur sind ein oder mehrere charakterisierende Instrumente zugeordnet, die die in den vokalen Linien dargestellten Seelenzustände mitzeichnen. Ein Sinngeflecht an Kommentaren und Konnotationen wird so erkennbar; das unerschütterliche Selbstverständnis des parasitären Dichters Mittenhofer zum Beispiel kommt durch die ihm zugeordneten Blechbläser Horn, Trompete und Posaune zum Ausdruck, die eine für diese Instrumente unübliche Beweglichkeit und Flexibilität erlangen. Auch Rhythmik und Melodik verklanglichen das Verhältnis der Personen zueinander, vor allem Dominanzen und Abhängigkeiten: Die Reihe, die jeder Person nach dem Prinzip der von Henze sehr frei gehandhabten 12-tönigen Serialität zugeordnet ist, kann als musikalische Struktur auf andere Personen übergreifen, fast leitmotivische Strukturen kommen so zustande. Lautmalerei und atmosphärische Stimmungen, die das Orchester des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden unter der sehr feinfühlig differenzierenden Leitung von Zsolt Hamar mit unüberhörbarer Spielfreude und Präzision ausgestaltete, entstehen durch den vibrierenden, sich ständig verändernden Klang dieses Werkes, der daraus resultiert, dass die Instrumente meist nur für wenige Töne verwendet werden. Das hervorragend harmonierende Sängerensemble setzte stimmlich wie darstellerisch die hohen Anforderungen überzeugend um. Zwischen Situationskomik und Tragik gewinnt das Drama um den Dichter eine beklemmende Aktualität, die den Mythos vom Künstler als Außenseiter der Gesellschaft, der ausschließlich und radikal seiner Kunst lebt – das Byron′sche und Wagner′sche Künstlerkonzept der Romantik und des Bürgertums – ins Groteske übersteigert, um es in seiner Diabolie und verantwortungslos-zerstörerischen Egomanie zu entlarven – denn Mittenhofer kann nicht mehr sprechen; statt seiner Stimme erklingen die Stimmen all derer, die er für sein Werk vereinnahmt und geopfert hat. Das Leben verschafft sich in der Parallelität mit der Kunst endlich Gehör – eine Abrechnung mit der „bürgerlichen“ Kunst, die Hilsdorfs Inszenierung packend umsetzt.

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