Kultur Neues Reimann-Werk "L'invisible": Die Schatten über uns allen

Szene aus „L’invisible“ von Aribert Reimann mit Annika Schlicht und als Kind Gelimer Reuter.
Szene aus »L’invisible« von Aribert Reimann mit Annika Schlicht und als Kind Gelimer Reuter.

Uraufführung an der Deutschen Oper in Berlin

Zum fünften Mal hat Aribert Reimann die Uraufführung eines seiner Bühnenwerke dem Ensemble der Deutschen Oper in Berlin anvertraut. Eine große, beständige Treue des mittlerweile 81-jährigen Künstlers. Und „L`Invisible“, uraufgeführt am Sonntagabend, ist noch einmal ein Höhepunkt. Zu erleben war ein Werk höchster Konzentration, ein Sich-Hineinbohren in die eine große Frage, die ausnahmslos alle Menschen betrifft: die nach dem Tod, seiner grausigen Unberechenbarkeit und unserem Umgang damit. Reimann, wieder sein eigener – diesmal französischsprachiger – Librettist, hat sich in drei Kurzdramen Maurice Maeterlincks vertieft, ihre dunklen Verflechtungen ergraben und daraus eine Familiengeschichte über ein reichliches Jahrzehnt hinweg geformt. Im ersten Bild drängt sich etwas finster Unbekanntes ins familiäre Nachtmahl, von allen außer dem blinden Großvater verdrängt und verleugnet. Dann stirbt eine Mutter, und am Ende der kompakten anderthalb Stunden ist auch der Sohn, dem sie damals noch das Leben schenkte, wahrscheinlich tot – seinen verzweifelt besorgten Schwestern entführt, nachdem schon Brüder verschwunden und im Mittelteil eine junge Frau tot aus dem Fluss gezogen wurde. Die Namen der Akteure wechseln zwar, aber gerade dadurch breitet sich die Geschichte ins Allumfassende. Eine „Trilogie lyrique“, bei der Premiere mit begeistertem Beifall angenommen. Er galt zuerst dem Komponisten, der hier ein Werk eindringlichster Expressivität geschaffen hat, holzschnittartig hart in den Konturen und doch von dunkel glühendem Farbenreichtum. Wenn im ersten Bild nur Streicher, im zweiten nur Holzbläser spielen, erlebt man selbst das als zwingende Verdichtung und damit als Bereicherung – auch, weil Donald Runnicles mit seinem Orchester nie die Spannung fallen ließ, intensiv und punktgenau führte und formte. Gleich engagiert und kompetent das gesamte Gesangsensemble bis hin zum anrührenden Kinderdarsteller Salvador Macedo. Jede Hervorhebung ist hier eine kleine Ungerechtigkeit. Doch die beiden intensivst geforderten Frauenrollen – Rachel Harnisch, sich spröde erst allmählich aufschließend und am Ende ein Bild abgründiger Verzweiflung, und Annika Schlicht – sowie das Countertenor-Trio Tim Severloh, Matthew Shaw und Martin Wölfel prägten sich noch besonders intensiv ein. Diese drei „Dienerinnen“, Vollzugsgehilfen einer unberechenbar-dämonischen, nie sichtbaren Königin, agieren nicht nur als leibliche Gestalten, sondern auch als klebrig-spinnenhafte, ungreifbar durch die Szene schwebende Scherenschnitt-Schatten, gegen deren andrängende Schwärze am Ende alle menschliche Solidarität vergebens ist. In vielen solcher Details findet Regisseur Vasily Barkhatov mit seinem Team starke, überzeugende Symbolbilder – so das zerstörte, in finstere Wortlosigkeit versinkende Weihnachtsfest des Mittelteils. Nur im dritten, längsten Teil verfisselt sich das Ganze kurz ins Bilderbuchhafte, um dann mit der geballten Wucht einer Bühne voller Kinderleichen alles Anekdotisch-Spielerische hinter sich zu lassen. Selbst, wenn die allerletzte Sequenz das Geschehen vielleicht „nur“ als fürchterlichen, aber letztlich doch endlichen Alptraum auflösen mag (in Barkhatovs eigener Deutung ist sie freilich die kurze Todes-Euphorie eines Koma-Patienten): wie hier die Schwärze und die Ängste in jedes Leben drängen, wird dadurch um keinen Deut relativiert. Und so wurde die Regieverpflichtung des jungen Moskauers zu einem Glücksgriff für Aribert Reimanns jüngste Oper – und für einen selten geschlossenen, beeindruckenden Abend.

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