Literatur Literaturstar, dem Tod nah: Hanns-Josef Ortheils autobiografisches Buch „Ombra“

Hanns-Josef Ortheil
Hanns-Josef Ortheil

Es ist ein Schock, als bei Hanns-Josef Ortheil im Sommer 2019 eine schwere Herzerkrankung festgestellt wird. Plötzlich ist der zeitlebens produktive Autor, Professor und Pianist ausgebremst. Mehr noch: Die Herz-OP verläuft nicht komplikationslos, Ortheil fällt ins Koma. „Ich bin durch einen Todestunnel gegangen“, schreibt er in „Ombra. Roman einer Wiedergeburt“, der kurz vor seinem 70. Geburtstag am 5. November erschienen ist. Wie so oft lässt der Autor das Publikum auch an dieser Phase seines Lebens teilhaben. Doch in seinem persönlichsten Buch scheint er so nah an der Wirklichkeit wie nie zuvor.

„Ich fühle mich hilflos und amputiert“, umreißt er seine Situation zu Anfang seiner mühsamen Genesung. Denn zunächst kann Ortheil, der seit Kindertagen täglich kleine Aufzeichnungen machte und dank Stofffülle und Erzählkunst einer der erfolgreichsten deutschen Literaten ist, nicht einmal mehr einen Bleistift oder gar einen Gedanken festhalten. Und: Der leidenschaftliche Pianist, der dies nur aufgrund chronischer Schmerzen nicht zum Beruf machte, ist nicht mehr in der Lage, Klavier zu spielen.

Für die bleierne Zeit seiner Rekonvaleszenz zieht sich Ortheil in sein Elternhaus in Wissen an der Sieg zurück. Nun folgt der Leser dem Endsechziger, wie er sich die einfachsten Dinge zurückerobert. „Der Körper hat die Herrschaft übernommen, er lässt nicht mehr mit sich verhandeln. Ich werde ihm jetzt dienen müssen, und er wird mir höchstens erlauben, täglich ein paar Zeilen zu kritzeln.“

In dem für Ortheil typischen warmen Erzählton berichtet er fast linear über seine täglichen Besuche in einer Rehaklinik, wo er sich in die Hände von Sport-, Ernährungs- und Physiotherapeuten, einer Chefärztin und einer Psychologin begibt. Teils durchaus humoristisch schildert er Erfahrungen, die jeder kennt, der sich nach einer Krankheit einigermaßen hilflos bis unbeholfen einer solchen Einrichtung übereignet.

Dabei kommt für ihn das Problem seiner Bekanntheit hinzu, die er zunächst zu verschleiern versucht. Vergeblich. Mitpatienten wollen Autogramme, das Personal verlangt nach Büchern mit Widmungen, selbst die Chefärztin schwärmt. Diese Schilderungen erscheinen etwas zu ausladend.

Spannend dagegen die psychischen Prozesse, die bei ihm parallel zu den physischen Fortschritten einsetzen. Ortheil gewinnt, gerade im einsamen Westerwald-Haus, eine neue Sicht auf Kindheit und Jugend und seine - etwa in „Die Erfindung des Lebens“ geschilderte - teils tragische Familiengeschichte. Denn vor seiner Geburt hatten seine Eltern vier Söhne verloren. Die traumatisierte Mutter war anfangs stumm, wie auch zeitweise ihr kleiner Sohn. Erst mit acht lernte er dank seines Vaters schreiben - und sollte damit nie mehr aufhören, bis zu seiner Erkrankung. Auch darum geht es in den „Gesprächen“ mit seinen 1988 bzw. 1996 gestorbenen Eltern in „Ombra“, bei denen sich ein gewisser Doktor Freud einmischt.

Nur angedeutet wird im Roman eine Art Nahtoderfahrung, die der Autor im Koma erlebte. Umso breiter schildert er, wie er mit einer gewissen freudigen Verbissenheit die wiedergewonnene Kraft ausprobiert, Freunde und Kindheitsorte im geliebten Köln aufsucht und durch diese äußeren Aktivitäten zu einer inneren Erneuerung findet.

Darin verwoben sind die Gespräche mit seiner Therapeutin, bei denen Ortheil auch die Erkenntnis gewinnt, dass sein Hemingway-Roman „Der von den Löwen träumte“ (2019) eine Mitschuld trägt. Nicht nur, dass er fällige Vorsorgetermine versäumte - in Venedig wandelte er in einer Art Überidentifikation auf den Spuren des Autors und seiner herzkranken Hauptfigur: „Es war wie eine Traumreise, als bewegte ich mich in einer Hemingway-Trance. (...) Allmählich habe ich mich verwandelt und bin seinem herzkranken Oberst durch Venedig gefolgt.“

Der Titel „Ombra“ deutet auf das Glas Wein, das man in Italien zum Aperitif nimmt, aber auch auf das Wort „Schatten“. Nach seiner Krankheit mag Ortheil zunächst ein „Schatten seiner selbst“ gewesen sein. Mit seinem neuen Roman scheint er wieder zurück im Leben, mit klaren Konturen und Freude am Erzählen.

Lesezeichen

Hanns-Josef Ortheil: „Ombra. Roman einer Wiedergeburt“; Luchterhand, München; 304 Seiten, 24 Euro.

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